Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 121

Occultismus und officielle Wissenschaft (Seiling, Max, Prof.)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 121

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SEILING: OKKULTISMUS UND OFFICIELLE WISSENSCHAFT.

wiederum werden durch jede Erweiterung
ihrer Brodwissenschaft beunruhigt, weil
sie ihnen neue Arbeit bringt oder das
System gefährdet. »Man freut sich nicht,
eine neue Erscheinung zu sehen; im
Gegentheil, sie ist oft peinlich.« (Virchow
in seiner Abhandlung über Wunder.) In
manchen Fällen können auch materielle
Rücksichten mit im Spiele sein: Ein Pro-
fessor kann seine Stellung verlieren, wenn
er sich in zu schroffen Gegensatz zu
seiner Regierung und zur öffentlichen
Meinung bringt, und ein junger Gelehrter
könnte unter Umständen vergeblich auf
seine Anstellung harren müssen, wenn
er aussei- den erforderlichen Fähigkeiten
nicht auch eine entsprechende Gesinnung
besäße. Endlich ist noch zu bemerken,
dass es leider, wie schon Seneca gesagt,
in der menschlichen Natur liegt, lieber
der Wahrheit ins Gesicht zu schlagen,
als einen Irrthum einzugestehen.

Von allen neuen Erscheinungen, welche
der Wissenschaft je entgegentraten, stellt
nun aber keine an die Tapferkeit der
Gelehrten so hohe Anforderungen, wie der
Okkultismus; handelt es sich bei ihm doch
um Dinge, welche den bekannten Gesetzen
in besonders auffälliger Weise zu wider-
sprechen scheinen. Man würde also einen
grosen Mangel an Einsicht verrathen, wenn
man sich über die ablehnende Stellung
der offiziellen Wissenschaft dem Okkul-
tismus gegenüber auch nur einen Augen-
blick wundern wollte. So weit das ab-
lehnende Verhalten in Ignorieren und
Todtschweigen besteht, ist es eben durch-
aus erklärlich. Dagegen erscheint es
schwer verständlich, dass namhafte Ge-
lehrte, ohne eine bloße Ahnung vom
Okkultismus zu haben, den Muth zu directen
Angriffen auf dieses wichtige Wissens-
gebiet besitzen, bei welchen man be-
zweifeln muss, ob es sich noch um die
Erforschung der Wahrheit handelt.

Eine sehr große Tapferkeit nach
dieser Richtung hat entschieden der
bekannte Naturforscher und Jenaer Pro-
fessor Ernst Haeckel bewiesen, als er in
seinem abschließenden Werke »Die Welt-
räthsel« auch mit dem Okkultismus ab-
gerechnet hat. Zunächst ist zu bemerken,
dass das Wort »Okkultismus« im ganzen
Buche nicht zu finden ist, wie denn auch

die allermeisten okkulten Sondergebiete
(sogar der Hypnotismus) in keiner Weise
berührt werden. Haeckel hat vielmehr
die sehr rückständige Ansicht, dass der
Okkultismus (ein grosses Ganzes) identisch
mit dem Spiritismus (einem kleinen Theile
jenes Ganzen) ist. Diesem letzteren nun
glaubt er auf etwas mehr als einer
Seite seines umfangreichen Werkes den
Todesstoß versetzen zu können. Er nennt
daselbst (S. 352) den Spiritismus eine
der merkwürdigsten Formen des Aber-
glaubens; er tischt das bei den Zeitungen
so beliebte Märchen von der Entlarvung
sämmtlicher Medien auf; im Besonderen
spricht er vom gemeinen, nachträglich
entlarvten Betrüger Slade; er muss zwar
zugeben, dass »angesehene Naturforscher«
und »hervorragende Physiker« (er nennt
Crookes, Wallace, Zöllner, Fechner
und Wilhelm Weber) für den Spiritismus
eingetreten sind, er erklärt dies jedoch
»theils aus ihrem Übermaß an Phantasie
und Kritikmangel, theils aus dem mäch-
tigen Einfluss starrer Dogmen, welche
religiöse Verziehung dem kindlichen Ge-
hirn in frühester Jugend schon einprägt«;
und er schließt seinen Angriff auf den
Spiritismus folgendermaßen: »Die leb-
haften Schilderungen, welche Karl du Prel
in München und andere von solchen
Phänomenen geben, sind durch die Thätig-
keit einer erregten Phantasie, verbunden
mit Mangel an physiologischen Kennt-
nissen, zu erklären.«

Haeckel spricht nicht nur allen in
spiritistischen Sitzungen beobachteten Er-
scheinungen die Echtheit ab, sondern er
nimmt auch an, dass diese Erscheinungen
von sämmtlichen Anhängern des Okkul-
tismus ohne Weiteres den Spirits zuge-
schrieben werden! Vom Animismus,
welcher viele der in Rede stehenden
Phänomene aus abnormen Fähigkeiten
der anima des Mediums erklärt, weiß
er nichts; ebensowenig davon, dass
manche Okkultisten überhaupt nur den
Animismus vertreten. So hat denn auch
der bedeutendste der von Haeckel ange-
führten Naturforscher, Crookes, die längste
Zeit an seiner Theorie von der psychischen
Kraft der Medien festgehalten, während
er später ohne die Annahme fremder,
für unsere Sinne nicht wahrnehmbarer

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 121, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-09_n0121.html)