Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 126

Die moderne Kunst in Frankreich seit 1870 (Mauclair, Camille)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 126

Text

MAUCLAIR: DIE MODERNE KUNST IN FRANKREICH SEIT 1870.

reiches. Während dieser Zeit setzte Claude
Monet seine Landschaften fort. Sein Col-
lege, Edgar Degas, besaß eine beson-
dere Begabung für den carricaturenhaften
Ausdruck der Modernität; er malte seine
Operntänzerinnen, seine Badenden Frauen,
Bilder-Serien, die das Decorative des mo-
dernen Weibes mit tiefer Wahrheit zur
Gestaltung brachten. Auguste Renoir er-
schien als der Erbe der Anmut Frago-
nards, Boucher’s und der kleinen Meister
des XVIII. Jahrhunderts, indem er mit einem
durchaus verwandten Reichthum des Colo-
rits reizende Frauengestalten, blühende
Landschaften und Kinder malte. Diese
vier Maler rangen sich den hohlen und
pomphaften akademischen Malern gegen-
über durch. Sie hatten nichts Romantisches
an sich, wiesen die litterarischen Ideen
in der Malerei, die historischen, phanta-
stischen oder allegorischen Stoffe zurück
und verabscheuten jene Kunst, die uns
zum Beispiel die englischen Präraphaeliten
weisen, waren also ganz einfach Maler
des modernen Lebens, realistisch und
pittoresk nach Art des XVIII. Jahrhunderts.
Manet kam von den alten Spaniern und
Franz Hals; Renoir von Fragonard; Monet
von Watteau, Degas von den Sitten-
schilderern des letzten Jahrhunderts. Mit
ihnen sollte sich eine bedeutende Reihe
von Künstlern dem Studium der Sitten,
der Straße, der Concerte, der modernen
Häuslichkeit widmen. Der Impressionismus
bildete eine wichtige Schule. Er war be-
stimmt, zu Ende des XIX. Jahrhunderts
ebenso bedeutend zu werden, wie der
Romantismus Delacroix’, der Rousseauismus
Décamp’s zu Beginn desselben. Dieser
stützte sich auf eine neue Auffassung des
Pittoresken und der historischen Malerei;
der Impressionismus stützte sich haupt-
sächlich auf eine neue Auffassung der
Maltechnik und außerdem auf eine be-
stimmte Manier, den reinen und einfachen
Realismus zu modificieren. Der theatra-
lische und decorative Romantismus war
der englischen und deutschen Inspiration
sehr nahe verwandt, während der Im-
pressionismus echt französisch ist und auf
das XVIII. Jahrhundert, auf den Ausdruck
des altfranzösischen Blutes zurückgeht.

Der Impressionismus wurde in seinem
französischen Sinne nicht verstanden.

Die Kritik war zu unintelligent, um sich
sein nahes Verhältnis zu der Technik
Watteau’s und den nahen Ideen der kleinen
Sittenmaler des XVIII. Jahrhunderts klar zu
machen. Man muss sogar hinzufügen,
dass das Princip der Farbenzerlegung in
fragmentarische Töne ganz deutlich von
Andrea del Sarto und Fra Angelico an-
gewendet wurde, mit welch’ letzterem
Claude Monet in seinem Colorit große
Ähnlichkeit hat; auch das wurde nicht
bemerkt. Von den Impressionisten stammt
die Revolution in der Illustration der
Journale, in den Affichen und Vignetten
moderner Bücher. Man verdankt dem
Impressionismus — neben den genannten
vier hochbedeutenden Männern — eine
Reihe anderer, sehr angesehener Künstler.
Die Schwägerin Manet’s, Berthe Mori-
sot, die im Jahre 1895 starb, war eine
entzückende Aquarellistin, Pissarro und
Sisley waren bedeutende Landschafter.
Der Pastellmaler Jules Chéret erfand
(Zweites Kaiserreich) die Affiche in Farben,
vervollkommnete sie und schuf eine Serie,
die ihn gegen 1880 berühmt machte.
Man kann Chéret als den originellsten
Phantasie-Decorateur unserer Zeit betrach-
ten. Er besitzt das Genie der anmuthigen
Fresken, der ingeniösen und zarten Arrange-
ments. Er schafft mit den Figuren der
italienischen Komödie die elegantesten
Wandeldecorationen. Außerdem malte er
eine große Anzahl Röthelblätter, die direct
von Fragonard und Boucher zu stammen
scheinen. Chéret ist mit Renoir der wahre
Erbe dieser Meister. Die merkwürdige
Persönlichkeit Albert Besnard’s ist eben-
falls mit dem Impressionismus verknüpft.
Besnard ist ein erstaunlicher Virtuos,
sicherlich der interessanteste und ab-
wechlungsreichste unserer Pariser Salons.
Er hat alle Genres gestreift und zeigt sich
in allen originell. Er hat durchaus voll-
endete Frauenporträts und Gebäudedeco-
rationen von wirklicher Schönheit ge-
schaffen. Er studierte besonders die Re-
flexe und hat ganze Bilder componiert,
die Studienmuster der reciproken Einflüsse
des Lichtes auf verschieden colorierte
Oberflächen sind. Von Algier hat er eine
Reihe mächtiger Visionen mitgebracht.
Seine Technik ist sehr kühn und heftig;
doch unterscheidet er sich von den Im-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 126, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-09_n0126.html)