Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 127

Die moderne Kunst in Frankreich seit 1870 (Mauclair, Camille)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 127

Text

MAUCLAIR: DIE MODERNE KUNST IN FRANKREICH SEIT 1870.

pressionisten dadurch, dass er sehr ge-
bildet ist, nach dem geistigen Ausdruck
strebt und stets bemüht ist, Träume wie
Realitäten zu malen. Alles in Allem ist
Besnard ein vereinzelt dastehender Typ,
den einzureihen unmöglich sein dürfte,
und das Nämliche kann man von Eugene
Carrière sagen. Dieser ist tief, nüchtern,
concentriert, Colorist in Grau und Schwarz
und sucht vor Allem die Emotion. Bes-
nard und Carrière sind die entschieden-
sten unter den Künstlern, die, von dem
Impressionismus ausgehend, diesen mit
der Ideologie zu versöhnen suchen,
indem sie diese Ideologie in die
Modernität unserer Zeit und nicht in die
Legende verweisen.

Dieser Übergang veranlaßt mich, von
einem anderen einsamen Künstler zu
sprechen, der eine bedeutende Stellung
eingenommen hat und gegen Ende des
XIX. Jahrhunderts ebenso gross war, wie
es Delacroix zu Beginn desselben ge-
wesen; ich meine Puvis de Chavannes.
Auch er hängt durch seine Farbe, seine
Verwendung des Grau und Blau, seine
sehr helle Tonalität, mit dem Impressio-
nismus zusammen, entfernt sich aber von
ihm durch das gebieterische Verlangen,
den malerischen Effect der Farbe stets
dem Charakter und der Zeichnung zu opfern.
In gleicher Weise steht er auch den
Akademikern, die ihn verabscheuten, sehr
fern, denn er concipiert seine classischen,
virgilischen Decorationen, seine großen
Episoden aus der französischen Geschichte
oder seine Allegorien der Arbeit, der
Jahreszeiten, der Familie, der Poesie
mit einer menschlichen Einfachheit, die
von der Convention der Akademie weit
entfernt ist. Er sucht die wahre Geste,
den gewöhnlichen Ausdruck — und die
familiären Einzelheiten erschrecken ihn
nicht. Er zeichnet mit einer decorativen
Wahrheit, mehr in Silhouetten, als im
Einzelnen, und ist in diesem Streben
nach dem Wahren Realist. Doch er ver-
steht es, seine Scenen aus jeder Epoche
herauszuheben und sie zu idealisieren,
indem er sie so gestaltet, dass sie sich
überall und zu allen Zeiten abspielen
können. In Wirklichkeit geht er zu den
primitiven Decorateuren, zu Signorelli,
Masaccio und Piero della Fran-

cesca zurück. Er ist gleichzeitig ver-
altet und modern und geht dem archäo-
logischen Detail, das die Akademiker ab-
sichtlich hineinbringen, aus dem Wege.
Die menschliche Nacktheit, Waffen, Ge-
fäße, ein Banner genügen ihm, um eine
blasse und reine Welt zu schaffen, in der
edle, gesunde und wahrhafte Formen eine
Legende oder eine allgemeine erhabene
Idee beleben. Dieser große Intellectuelle
war gleichzeitig ein großer »Naturalist«
und ein großer Poet. Puvis de Chavannes
steht dem Realismus und dem Idealismus
gleich fern, er vereinfachte und versöhnte
beide Gattungen. Neben diesem großen
Manne will ich einen anderen Einsamen
nennen, der ebenfalls von den Impressio-
nisten und den akademischen Malern in
gleicher Weise verleugnet wurde. Gustave
Moreau war in seinem Leben so ge-
heimnisvoll wie in seiner Kunst. Er stellte
niemals aus und verkaufte seine Werke,
sobald sie fertig waren, an Private. Man
kannte kaum einige photographische Re-
productionen seiner Werke. Er war be-
rühmt, geehrt, Mitglied der Akademie der
Schönen Künste und Lehrer an der Schule
der Schönen Künste, wo seine Lehrmethode
die alten Ideen umgewälzt und eine Ge-
neration sehr bemerkenswerter junger Maler
geschaffen hat. Moreau starb 1899 und
hinterließ dem Staate ein Haus voller
Kunstwerke; das Luxembourg-Museum
zu Paris besitzt jetzt 15 Aquarelle von
ihm, in denen das Fleisch Elfenbein, die
Augen Edelsteine sind, und die alle
Reichthümer und Seltenheiten der Farbe,
alle gelehrten Künsteleien der Gold-
schmiedekunst und des Email aufweisen.
Es ist eine außergewöhnliche, nichts
Menschliches aufweisende, dabei aber
kraftvolle, eigenthümliche, den Geist
fesselnde Kunst, von der die Dichter und
die Nervösen entzückt sind. Moreau war
im genauen Sinne des Wortes kein großer
Maler, aber er hat eine unglaublich
merkwürdige Kunst geschaffen, die sich
an nichts anlehnt, höchstens manchmal
an die Primitiven von Siena. Puvis de
Chavannes und Moreau bilden zwei Aus-
nahmefälle unter den Idealisten. Sie
mussten vereinzelt bleiben. Diese beiden
großen Intellectuellen waren dazu be-
stimmt, uncopierbar zu leben und zu

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 127, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-09_n0127.html)