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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 11, S. 174

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BRAUSEWETTER: IBSEN DER BEKENNER.

Charakterbeschaffenheit, unsichtbar für die
Besteller verbirgt. Je mehr Ibsen in die
Seelentiefen eindrang, desto mehr musste
er trachten, auch das Seelen-Mystische,
das schon immer in seinen Gestalten zu
finden war (schon in Nils Lykke in »Frau
Inger von Oestrot«), den Einfluss geheim-
nisvoller Gefühlsregungen und Triebe auf
die Handlungen der Menschen zu offen-
baren (»Rosmersholm«, »Frau vom Meere«,
»Klein Eyolf«, »Baumeister Solness« etc.)
Aber neben seiner »weltklugen«, satirisch-
pessimistischen Lebensbetrachtung gieng
das idealistische Trachten einher, die Men-
schen zu adeln, sie auf eine höhere Ge-
fühls- und Willensstufe zu heben, ihnen
den Weg dazu zu zeigen, sie aufzurütteln
aus dem Stumpfsinn, der Feigheit und
Lügenhaftigheit, dass sie wahrheitsliebende,
geistesfreie »Adelsmenschen« (»Rosmers-
holm«) werden könnten, die über das Alltags-
leben hinausstreben in »Heimstätten mit
einem Thurm darauf« (»Baumeister Sol-
ness«), sie zu mahnen, dass in ihnen neben
den kleinlichen Erdenmenschen auch etwas
von Dem ist, »was sie dem Meere und
Himmel verwandt macht« (»Klein Eyolf«).

Jahrzehntelang lebte der Dichter fern
von der Heimat, der doch in erster
Reihe all sein Wirken und Schaffen galt,
und er hoffte wohl, dort Samenkörner
ausgesäet zu haben, die einst Früchte
werden könnten. Dann reiste er heim;
er wollte wieder in der Mitte seines Volkes
leben, wollte an Ort und Stelle schauen,
wie es dort geworden, ob sein Schaffen
dort etwas gewirkt hatte.

Aber er muss sehr bald von einer
bitteren Enttäuschung befallen und zu
einer qualvollen Erkenntnis gekommen
sein, denn nun beginnt er mit Enthüllungen
aus dem Seelenleben enttäuschter, ver-
kannter und dabei irregehender Künstler-
größen und Genies. Schon in »Baumeister
Solness« war es die anerkennungssüchtige
Künstler-Eitelkeit, der vor der Verdrängung
durch die Jugend bangte, was den Meister
zu einer prahlerischen That verlockte, die
seinen Untergang herbeiführt, wenn auch
dabei seine ideale Lebens-Idee trium-
phiert. Noch bitterer und düsterer war
das Schicksal des Menschenbeglückung
erstrebenden »Genies« in »Gabriel Bork-
man«, weil dieser sich über Staats-

gesetz, Menschenmoral und die Liebe
zur Erreichung seines Zieles hinwegsetzt.
Hass der Welt und der Seinen und eigener
Zusammenbruch unter der »Erzhand der
Herzenskälte«, gerade als ihm eine neue
Lebenshoffnung winkt, ist sein Los.

Auch Ibsens neuestes Drama kündet
von der Tragik des für das künstlerische
Genie nothwendigen Egoismus, aber zu-
gleich offenbart er darin in dem seelischen
und geistigen Entwicklungsgang dieses
Künstlers, des Bildhauers Rubek, persön-
liche Eindrücke, Erkenntnisse und Gefühle,
sowie welche Enttäuschungen ihm in der
Heimat widerfuhren und welche Folgen
das auf seine Dichterseele hatte; denn
diese ganze Dichtung wirkt so persönlich,
dass man nicht an bloße Dichterfiction
in ihr glauben kann, und ihre seltsame
Bezeichnung: »Ein dramatischer Epilog«
bedeutet offenbar eine Absage an die bis-
herige Dichtungsart; sie ist der Abschluss
seines dramatischen Schaffens, wie Bild-
hauer Rubek im Drama sein künstlerisches
aufgibt.

Dieser Bildhauer Rubek, Ibsens Sprach-
rohr im Drama, hat besonders ein »Meister-
werk«: »Auferstehung«, geschaffen, das
ihm »Ruhm und alle anderen Herrlich-
keiten der Welt« einbrachte, sich dann
ein schönes, junges Weibchen genommen,
eine Landsmännin, und kehrt nach vier-
jähriger Ehe, in der er hauptsächlich
»frappant ähnliche« Porträtbüsten schuf,
in die Heimat zurück. Gleich im ersten
Gespräche Rubeks mit seiner Frau er-
halten wir die ersten Bekenntnisse des
Dichters über die Enttäuschungen, die
ihm die Heimat und sein Volk bereitet
haben: »Es macht mir keine rechte Freude,
wieder zu Hause zu sein. Vielleicht bin ich
zu lange weg gewesen, bin all dem hier
ganz fremd geworden, den Verhältnissen
hierzulande.« Vom Lande und Leben hätte
er »schon mehr als genug« gesehen. Be-
sonders aber empört und schmerzt es ihn,
dass die Leute »nichts von seinen Werken
wissen und verstehen«, und wenn sie
»etwas ahnen«, ist es etwas, »was gar
nicht da ist, was ihm nie im Sinn gelegen
hat!« Und er ruft voll Empörung aus: »Es
ist nicht der Mühe wert, sich so immerfort
abzunutzen für den Mob und die Masse und
die ‚ganze Welt‘!« Hier haben wir also die

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 11, S. 174, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-11_n0174.html)