Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 11, S. 176

Ibsen, der Bekenner Sophus Michaelis: »Aebelö«. — Hunger und Liebe. Von Irma v. Troll-Borostyáni* (Brausewetter, ErnstSchlaf, Johannes)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 11, S. 176

Text

BÜCHER.

und Majas die Durchschnitts-Typen sind,
in der eine große Künstler-Individualität
verkannt, missverstanden und schließlich
durch die Lebens-Eindrücke in die Irre ge-
trieben wird — muss selbst der Künstler
am Ende zu der Verzweiflungs-Erkenntnis
kommen, dass wirklich der Rausch des
Genusses das Einzige ist, was Befriedigung
gewähren kann.

Denn Ibsen weiß sehr wohl, dass der
wahre, große Künstler schaffen muss und
kein Genussmensch sein kann. »Menschen
wie ich,« sagt Rubek, »finden kein Glück
im müßigen Genuss; das habe ich all-
mählich eingesehen. So einfach ist das
Leben nicht für mich und meinesgleichen.
Ich muss ununterbrochen arbeiten — Werk
schaffen auf Werk — bis zu meinem
letzten Tage. Ich bin zum Künstler ge-
boren und werde nie was anderes, als
Künstler werden!« Aber er braucht jemand,
der ihn versteht, »ihn gleichsam ausfüllt,
eins ist mit all seinem Thun und Schaffen«.
Darum kann er nicht auf die Dauer mit
einer lebenslustigen »Alltags-Frau«, die sich
»für diese Kunstfragen und dergleichen,
weiß Gott, gar nicht interessiert«, zusammen-
leben; er darf aber auch nicht »lieben«,
ohne an seiner Künstlerschaft Einbuße zu er-
leiden. Seine einstige Gefährtin, sein Modell
für seine »Auferstehung«, war ihm »ein
hochheiliges Werk der Schöpfung«; wenn
er ihrer in Sinnlichkeit begehrte, wären
»seine Gedanken unheilig geworden«, hätte
er nicht schaffen können, was er schaffen

wollte. Lieben oder Schaffen. Solange
er »schuf«, war er blind für das Leid des
neben ihm nach Liebe hinschmachtenden
Weibes, das ihm ihr Elternhaus, ihre
Schönheit, ihr junges Menschenleben zum
Opfer gebracht hatte. Als aber seine
Schaffensfähigkeit infolge der Enttäuschung
und des Zerfalles mit sich selbst »todt«
ist, da kann er lieben, da kommt er zu
der Erkenntnis, dass Leben, Genießen, sich
der Liebe Hingeben besser ist als Schaffen.
Aber auch nun ist sein Glücksbegehren
nicht das der Durchschnittsmenschen Ulf-
heim und Maja, sondern ein so über-
mäßiges, so strahlendes, wie nordische
Sommernacht auf den Bergen, dass es nur
ein Augenblicks-Genießen werden kann,
dass der Tod darauf folgen muss. Darum
ist die Schneelawine, die Rubek und Irene,
seine »begnadete Braut«, die »willig und
gern ihrem Herrn und Gebieter folgt«, wie
Rebekka dem Rosmer, im Herniedersausen
vergräbt, als sie »durch die Nebel« zum
flammenden Morgenlicht der Bergeshöhen
hinaufsteigen wollen, kein Zufallsspiel der
Natur, sondern, gerade wie in »Brand«
der Lawinensturz, die äußere dramatische
Verbildlichung des völligen Abschlusses
zweier Menschenleben — —

Das sind die Bekenntnisse und Ent-
hüllungen über das Innenleben und die
Lebenstragik eines Künstlers und Dichters,
die Ibsen bietet. Stärker als je lebt in
diesem Drama seine symbolische Kunst.

BÜCHER.

SOPHUS MICHAELIS: »AEBELÖ«.
Roman. Aus dem Dänischen übersetzt
von Marie Herzfeld
. Wiener Verlag. 1900.

»Aebelö« setzt in mancher Hinsicht die
Tradition von J. P. Jacobsens »Marie Grubbe«
fort. »Aebelö« ist zwar kein historischer Roman
im Sinne der »Marie Grubbe«, er ähnelt ihr
lediglich äußerlich in der Verwendung des
gleichen Zeitcolorits, das aber poetisch-colo-
ristischen Zwecken dienstbar gemacht ist. Denn
der Roman ist eigentlich, unbeschadet eines
frischen Realismus, mehr ein lyrisch-phantasti-

sches, denn ein episches Werk; voller Tem-
perament, Farben, stellenweise von dithyram-
bischem Rhythmus erfüllt, und in all diesen
Eigenschaften reich an starken Vorzügen.
Aber ganz wie die »Marie Grubbe« stellt der
Roman — Michaelis steht, wie ja auch
Jacobsen oft, völlig im Zeichen Friedrich
Nietzsches — selbsteigene, »moralinfreie«
Herrennaturen dar, die etwas von der brutalen
Gewalttätigkeit und der kräftigen Todesver-
achtung des Renaissance-Charakters haben.
Dies bringt, im sehr erfreulichen Gegensatz

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 11, S. 176, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-11_n0176.html)