Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 187

Noten zu den Sculpturen Rodins (Kassner, Rudolf)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 187

Text

KASSNER: RODINS SCULPTUREN.

die Natur gerade dort zu fixieren, wo sie
unwillkürlich von selbst zum Symbol wird.
Und ebenso wie man sein Werk Evocati-
onen oder Illusionen nennen kann, so darf
man es auch »Erfüllungen« heißen, weil
er ebenso wie Zauberer und Weiser auch
nur Künstler ist.

Von allen lebenden Bildhauern ist
Rodin der modernste, neben ihm kommen
nur noch Meunier und Klinger in Be-
tracht. Er ist der ausschließlichste und
vom Standpunkte der Geschichte aus der
nothwendigste. Es ist keine Phrase, wenn
ich sage, die Reihe, die für uns mit den
Griechen beginnt und in Michel-Angelo
ihre Mitte hat, wäre nicht geschlossen,
wenn Rodin nicht da wäre. Rodin macht
buchstäblich Epoche, man kann das weder
von Meunier noch von Klinger sagen.
Neben ihm scheint alles andere nur
Epigonenthum der Griechen oder der Renais-
sance zu sein. Rodin ist nothwendig. In
ihm ist das, was für Michel-Angelo noch
Bild, noch Romantik war, wirklich ge-
worden, in ihm haben die Griechen einen
Gegensatz, der gleich wiegt, gefunden.
Wie bei den Griechen alles durch die
Kunst zum Leben gieng, so scheint hier
alles Leben aufgebraucht, um ein paar
Kunstwerke zu erzeugen. Ich kann mir
ganz gut einen Menschen denken, der die
Griechen erst liebt, nachdem er Rodin
gesehen und verstanden hat, der den
Apollo und die Venus von Milo für ewig
schön laut und mit Wissen erklärt, nach-
dem er die Wahrheit von Rodins Le
Sculpteur et sa Muse
und L’éternelle
Idole
begriffen hat. Ich kenne kein ge-
niales Werk, das so wenig heiter wäre

wie das Rodins. Ja, die Heiterkeit der
Griechen hört auf, Gemeinplatz zu sein,
wenn man Rodin sieht, oder mit anderen
Worten, niemand darf von der Heiterkeit
der Griechen sprechen, der Rodin nicht
kennt, es sei denn, er fühle unser Leben
so wie er. Die Heiterkeit der Griechen
war nicht die Sorglosigkeit, von der
Schwachköpfe, welche die Ilias mäßig und
den Sophokles schlecht scandieren, faseln,
sie war ihr Glaube an den Stein, an das
Geschlecht, an Das, was neben ihnen ist,
das Gewissen für Das, was auf sie folgen
wird. Die Menschen Rodins sehen nichts
neben sich, nichts unter sich und wissen
nichts von Dem, was nach ihnen kommt.
Sie sind furchtbar einsam in den Armen
ihrer Geliebten und vor den Strahlen ihres
Ideals.

Vielleicht irre ich mich. Als ich un-
längst vor seinen Sculpturen stand, war
auch er da und gab seinen Gehilfen noch
einige Anordnungen. Das ist also der
Mann, sagte ich mir, den einige »Officielle«
— so nennt man sie hier — für wahn-
sinnig halten, der mit Daumier das größte
Künstlergenie Frankreichs ist. Er sieht
aus wie ein Maurermeister am Sonntag
im guten Rock: untersetzt, breitschulterig,
die Hände schwielig, die Bewegungen von
schwerer Sorglosigkeit, nur der breite
Mund verräth unter dem dichten Bart die
ungewöhnliche Energie eines Willens-
menschen und ein wenig auch die Ironie
Eines, der schon wissend war, bevor er
überwunden hatte. Vielleicht ist das seine
Heiterkeit, unsere Heiterkeit.

Paris, Juni 1900.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 187, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-12_n0187.html)