Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 191

Zwei Zeichnungen Salome (Beardsley, AubreyWilde, Oscar)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 191

Text

Eine große Terrasse im Palast des Herodes, die an den Bankettsaal stößt. Einige Soldaten lehnen
sich über die Brüstung. Rechts eine mächtige Treppe, links im Hintergrund eine alte Cisterne
mit einer Einfassung aus grüner Bronze. Der Mond scheint sehr hell.

DER JUNGE SYRIER: Wie schön die Prinzessin Salome heute Abend ist!

DER PAGE DER HERODIAS: Sieh’ die Mondscheibe! Wie seltsam sie aussieht.
Wie eine Frau, die aus dem Grabe aufsteigt. Wie eine todte Frau. Man könnte
meinen, sie blicke nach todten Dingen aus.

DER JUNGE SYRIER: Sie ist sehr seltsam. Wie eine kleine Prinzessin, die
einen gelben Schleier trägt und deren Füße von Silber sind. Wie eine kleine Prinzessin,
deren Füße weiße Tauben sind. Man könnte meinen, sie tanze.

DER PAGE DER HERODIAS: Wie eine Frau, die todt ist. Sie gleitet lang-
sam dahin.

(Lärm im Bankettsaal.)

ERSTER SOLDAT: Was für ein Aufruhr! Was sind das für wilde Thiere,
die da heulen?

ZWEITER SOLDAT: Die Juden. Sie sind immer so. Sie streiten über ihre
Religion.

ERSTER SOLDAT: Warum streiten sie über ihre Religion?

ZWEITER SOLDAT: Ich weiß es nicht. Sie thun das immer. Die Pharisäer
zum Beispiel sagen, dass es Engel gibt, und die Sadducäer behaupten, dass es
keine gibt.

ERSTER SOLDAT: Ich finde es lächerlich, über solche Dinge zu streiten.

DER JUNGE SYRIER: Wie schön die Prinzessin Salome heute Abend ist!

DER PAGE DER HERODIAS: Du siehst sie immer an. Du siehst sie zuviel
an. Es ist gefährlich, Menschen auf diese Art anzusehen. Schreckliches kann geschehen.

DER JUNGE SYRIER: Sie ist sehr schön heute Abend.

ERSTER SOLDAT: Der Tetrarch sieht finster drein.

ZWEITER SOLDAT: Ja, er sieht finster drein.

ERSTER SOLDAT: Er blickt auf etwas.

ZWEITER SOLDAT: Er blickt auf jemanden.

ERSTER SOLDAT: Auf wen blickt er?

ZWEITER SOLDAT: Ich weiß es nicht.

DER JUNGE SYRIER: Wie blass die Prinzessin ist. Niemals habe ich sie so
blass gesehen. Sie ist wie der Schatten einer weißen Rose in einem silbernen Spiegel.

DER PAGE DER HERODIAS: Du musst sie nicht ansehen. Du siehst sie
zuviel an.

ERSTER SOLDAT: Herodias hat den Becher des Tetrarchen gefüllt.

DER CAPPADOCIER: Ist das die Königin Herodias, dort mit dem perlen-
besetzten schwarzen Kopfputz und dem blauen Puder im Haar?

ERSTER SOLDAT: Ja, das ist Herodias, die Frau des Tetrarchen.

ZWEITER SOLDAT: Der Tetrarch liebt den Wein sehr. Er hat drei Sorten
Wein. Den einen bringt man von der Insel Samothrake, er ist purpurn wie der
Mantel des Cäsar.

DER CAPPADOCIER: Ich habe Cäsar nie gesehen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 191, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-12_n0191.html)