Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 192

Zwei Zeichnungen Salome (Beardsley, AubreyWilde, Oscar)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 192

Text

WILDE: SALOME.

ZWEITER SOLDAT: Der zweite kommt aus einer Stadt namens Cypern und
ist gelb wie Gold.

DER CAPPADOCIER: Ich liebe Gold.

ZWEITER SOLDAT: Und der dritte ist ein Wein aus Sizilien. Dieser Wein
ist roth wie Blut.

DER NUBIER: Die Götter meines Landes lieben Blut sehr. Zweimal im Jahre
opfern wir ihnen Jünglinge und Jungfrauen: fünfzig Jünglinge und fünfzig Jung-
frauen. Aber ich fürchte, wir geben ihnen nie genug, denn sie sind sehr hart
gegen uns.

DER CAPPADOCIER: In meinem Lande sind keine Götter mehr. Die Römer
haben sie ausgetrieben. Einige sagen, sie hielten sich in den Bergen versteckt, aber
ich glaube es nicht. Drei Nächte bin ich in den Bergen gewesen und habe sie überall
gesucht. Ich fand sie nicht und zuletzt rief ich sie beim Namen, aber sie kamen nicht.
Sie sind wohl todt.

ERSTER SOLDAT: Die Juden beten einen Gott an, den man nicht sehen kann.

DER CAPPADOCIER: Ich kann das nicht verstehen.

ERSTER SOLDAT: Wirklich, sie glauben nur an Dinge, die man nicht
sehen kann.

DER CAPPADOCIER: Das finde ich ganz und gar lächerlich.

DIE STIMME DES JOCHANAAN: Nach mir wird Einer kommen, der ist
stärker als ich. Ich bin nicht wert, ihm die Riemen an seinen Schuhen zu lösen.
Wenn er kommt, werden die verödeten Stätten frohlocken. Sie werden aufblühen
wie die Rosen. Die Augen der Blinden werden den Tag sehen und die Ohren der
Tauben werden geöffnet. Das Kind wird an der Höhle des Drachen spielen, es wird
die Löwen an ihren Mähnen führen.

ZWEITER SOLDAT: Heiß’ ihn schweigen! Er sagt immer lächerliche Dinge.

ERSTER SOLDAT: Nein, nein. Er ist ein heiliger Mann. Und er ist sehr
sanft. Jeden Tag, wenn ich ihm zu essen gebe, dankt er mir.

DER CAPPADOCIER: Wer ist er?

ERSTER SOLDAT: Ein Prophet.

DER CAPPADOCIER: Wie ist sein Name?

ERSTER SOLDAT: Jochanaan.

DER CAPPADOCIER: Woher kommt er?

ERSTER SOLDAT: Aus der Wüste, wo er sich von Heuschrecken und wildem
Honig nährte. Er trug ein Kleid von Kameelhaaren und um die Lenden einen ledernen
Gürtel. Er war sehr schrecklich anzusehen. Eine große Schar war immer um ihn.
Er hatte auch Jünger, die ihm folgten.

DER CAPPADOCIER: Wovon redet er?

ERSTER SOLDAT: Das kann man nie wissen. Manchmal sagt er Dinge, die
Einen erschrecken, aber es ist unmöglich zu verstehen, was er sagt.

DER CAPPADOCIER: Kann man ihn sehen?

ERSTER SOLDAT: Nein, der Tetrarch hat es verboten.

DER JUNGE SYRIER: Die Prinzessin verbirgt ihr Gesicht hinter dem Fächer.
Ihre kleinen, weißen Hände flattern wie Tauben, wenn sie in den Schlag fliegen.
Sie sind wie weiße Schmetterlinge. Sie sind genau wie weiße Schmetterlinge.

DER PAGE DER HERODIAS: Was geht es dich an? Warum siehst du sie
an? Du sollst sie nicht ansehen Schreckliches kann geschehen.

DER CAPPADOCIER (auf die Cisterne zeigend): Ein sonderbares Gefängnis.

ZWEITER SOLDAT: Es ist eine alte Cisterne.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 192, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-12_n0192.html)