Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 193
Text
DER CAPPADOCIER: Eine alte Cisterne? Das muss ein mörderischer Ort
zum Wohnen sein.
ZWEITER SOLDAT: O nein! Zum Beispiel, des Tetrarchen Bruder, sein
älterer Bruder, der erste Mann der Königin Herodias, war da zwölf Jahre gefangen.
Es hat ihn nicht umgebracht. Nach Verlauf der zwölf Jahre musste man ihn erdrosseln.
DER CAPPADOCIER: Erdrosseln? Wer wagte das?
ZWEITER SOLDAT (deutet auf den Henker, einen riesigen Neger): Der Mann
dort, Naaman.
DER CAPPADOCIER: Fürchtete er sich nicht?
ZWEITER SOLDAT: O nein! Der Tetrarch sandte ihm den Ring.
DER CAPPADOCIER: Was für einen Ring?
ZWEITER SOLDAT: Den Todesring. Da fürchtete er sich nicht.
DER CAPPADOCIER: Es ist aber doch etwas Schreckliches, einen König zu
erdrosseln.
ERSTER SOLDAT: Wieso? Könige haben auch nur einen Hals wie andere Leute.
DER CAPPADOCIER: Ich finde es schrecklich.
DER JUNGE SYRIER: Die Prinzessin erhebt sich! Sie verlässt die Tafel.
Sie ist sehr erregt. Sie kommt hierher. Ja, sie kommt auf uns zu. Wie blass sie
ist. Ich habe sie nie so blass gesehen.
DER PAGE DER HERODIAS: Sieh’ sie nicht an. Ich bitte dich, sieh’ sie
nicht an.
DER JUNGE SYRIER: Sie ist wie eine Taube, die sich verirrt hat Sie
ist wie eine Narcisse, die im Winde zittert Sie ist wie eine silberne Blume.
(SALOME tritt ein.)
SALOME: Ich will nicht bleiben. Ich kann nicht bleiben. Warum sieht mich
der Tetrarch fortwährend so an mit seinen Maulwurfs-Augen unter den zuckenden
Lidern? Es ist seltsam, dass der Mann meiner Mutter mich so ansieht. Ich weiß
nicht, was es heißen soll. In Wahrheit — ich weiß es nur zu gut.
DER JUNGE SYRIER: Ihr habt das Fest verlassen, Prinzessin?
SALOME: Wie süß die Luft hier ist! Hier kann ich athmen. Da drinnen
sitzen Juden aus Jerusalem, die einander über ihre närrischen Gebräuche in Stücke
reißen, und Barbaren, die trinken und trinken und ihren Wein auf den Estrich schütten,
und Griechen aus Smyrna mit bemalten Augen und Backen, mit ihrem gekräuselten
Haar und ihren Säulenlocken, und schweigsame, listige Egypter mit langen Achat-
nägeln und rostbraunen Mänteln, und brutale ungeschlachte Römer mit ihrer plumpen
Sprache. O, wie ich diese Römer hasse! Sie sind grob und gemein und geben sich
das Ansehen, als ob sie Fürsten wären.
DER JUNGE SYRIER: Wollt Ihr nicht sitzen, Prinzessin?
DER PAGE DER HERODIAS: Warum sprichst du zu ihr? O, es wird
Schreckliches geschehen. Warum siehst du sie an?
SALOME: Wie gut ist es, in den Mond zu sehen! Er ist wie eine silberne
Blume. Kühl und keusch. Wie eine Jungfrau. Ja, wie die Schönheit einer Jungfrau.
Gewiss, wie eine Jungfrau, die rein geblieben ist, die sich nie Männern preisgegeben
hat wie die anderen Göttinnen.
DIE STIMME DES JOCHANAAN: Siehe! Der Herr ist gekommen. Des
Menschen Sohn ist nahe. Die Centauren haben sich in die Ströme geflüchtet und
die Nymphen haben die Ströme verlassen und liegen unter den Blättern des Waldes
begraben.
SALOME: Wer war das, der hier gerufen hat?
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 193, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-12_n0193.html)