Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 194

Zwei Zeichnungen Salome (Beardsley, AubreyWilde, Oscar)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 194

Text

WILDE: SALOME.

ZWEITER SOLDAT: Der Prophet, Prinzessin.

SALOME: Ach, der Prophet! Der, vor dem der Tetrarch Angst hat?

ZWEITER SOLDAT: Wir wissen davon nichts, Prinzessin. Es war der Prophet
Jochanaan, der gerufen hat.

DER JUNGE SYRIER: Beliebt es Euch, dass ich Eure Sänfte holen lasse,
Prinzessin? Die Nacht ist schön im Garten.

SALOME: Er sagt schreckliche Dinge über meine Mutter, nicht wahr?

ZWEITER SOLDAT: Wir verstehen nie, was er sagt, Prinzessin.

SALOME: Ja, er sagt schreckliche Dinge über sie.

(Ein SCLAVE tritt ein.)

DER SCLAVE: Prinzessin, der Tetrarch ersucht Euch, wieder zum Fest hinein-
zugehen.

SALOME: Ich will nicht hineingehen.

DER JUNGE SYRIER: Verzeihung, Prinzessin, aber wenn Ihr nicht hinein-
geht, kann Schlimmes geschehen.

SALOME: Ist dieser Prophet ein alter Mann?

DER JUNGE SYRIER: Prinzessin, es wäre besser, hineinzugehen. Gestattet,
dass ich Euch führe.

SALOME: Ist der Prophet ein alter Mann?

ERSTER SOLDAT: Nein, Prinzessin, er ist ganz jung.

ZWEITER SOLDAT: Man kann es nicht sicher wissen. Welche sagen, es sei Elias.

SALOME: Wer ist Elias?

ZWEITER SOLDAT: Ein Prophet dieses Landes aus vergangenen Tagen,
Prinzessin.

DER SCLAVE: Welche Antwort soll ich dem Tetrarchen von der Prinzessin bringen?

DIE STIMME DES JOCHANAAN: Jauchze nicht, du Land Palästina, weil
der Stab Dessen, der dich schlug, zerbrochen ist. Denn aus dem Samen der Schlange
wird ein Basilisk kommen, und seine Brut wird die Vögel verschlingen.

SALOME: Welch seltsame Stimme! Ich möchte mit ihm sprechen.

ERSTER SOLDAT: Ich fürchte, das kann nicht sein, Prinzessin. Der Tetrarch
duldet nicht, dass irgendwer mit ihm spricht. Er hat selbst dem Hohepriester ver-
boten, mit ihm zu sprechen.

SALOME: Ich wünsche mit ihm zu sprechen.

ERSTER SOLDAT: Es ist unmöglich, Prinzessin.

SALOME: Ich will mit ihm sprechen.

DER JUNGE SYRIER: Wäre es nicht besser, wieder zum Bankett zu gehen?

SALOME: Bringt diesen Propheten heraus.

(Der SCLAVE geht ab.)

ERSTER SOLDAT: Wir dürfen nicht, Prinzessin.

SALOME (tritt an die Cisterne heran und blickt hinunter): Wie schwarz es da
drunten ist! Es muss schrecklich sein, in so einer schwarzen Höhle zu leben. Es ist
wie eine Gruft (Zu den Soldaten): Habt ihr nicht gehört? Bringt den Propheten
heraus. Ich möchte ihn sehen.

ZWEITER SOLDAT: Prinzessin, ich bitte Euch, verlangt das nicht von uns.

SALOME: Ich soll wohl warten, bis es euch beliebt?

ERSTER SOLDAT: Prinzessin, unser Leben gehört Euch, aber wir können
nicht thun, was Ihr von uns begehrt. Und Ihr solltet das wirklich von uns nicht
verlangen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 194, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-12_n0194.html)