Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 195

Zwei Zeichnungen Salome (Beardsley, AubreyWilde, Oscar)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 195

Text

WILDE: SALOME.

SALOME (einen Blick auf den jungen Syrier werfend): Ah!

DER PAGE DER HERODIAS: O, was wird geschehen? Ich weiß, es wird
Schreckliches geschehen.

SALOME (tritt an den jungen Syrier heran): Du wirst das für mich thun, Narra-
both, nicht wahr? Du wirst das für mich thun. Ich war dir immer gewogen. Du
wirst es für mich thun. Ich möchte ihn bloß sehen, diesen seltsamen Propheten. Die
Leute haben soviel von ihm gesprochen. Ich habe den Tetrarchen oft von ihm sprechen
hören. Ich glaube, der Tetrarch hat Angst vor ihm. Hast du auch Angst vor ihm,
Narraboth, du auch?

DER JUNGE SYRIER: Ich fürchte ihn nicht, Prinzessin; ich fürchte niemanden.
Aber der Tetrarch hat es ausdrücklich verboten, dass irgendwer den Deckel zu
diesem Brunnen aufhebt.

SALOME: Du wirst das für mich thun, Narraboth, und wenn ich morgen in
meiner Sänfte an dem Thorweg, wo die Götzenbildhändler stehen, vorbeikomme,
werde ich eine kleine Blume für dich fallen lassen, ein kleines, grünes Blümchen.

DER JUNGE SYRIER: Prinzessin, ich kann nicht, ich kann nicht.

SALOME (lächelnd): Du wirst das für mich thun, Narraboth. Du weißt, dass
du das für mich thun wirst. Und morgen früh, wenn ich in meiner Sänfte an der
Brücke vorbeikomme, wo man Götzenbilder kauft, werde ich unter den Musselin-
schleiern dir einen Blick zuwerfen, Narraboth, ich werde dich ansehen, kann sein,
ich werde dir zulächeln. Sieh’ mich an, Narraboth, sieh’ mich an. Ah! wie gut du
weißt, dass du thun wirst, um was ich dich bitte! Wie du es weißt Ich
weiß, du wirst das thun.

DER JUNGE SYRIER (gibt dem dritten Soldaten ein Zeichen): Lass’ den Pro-
pheten herauskommen Die Prinzessin Salome wünscht ihn zu sehen.

SALOME: Ah!

DER PAGE DER HERODIAS: O, wie seltsam der Mond aussieht! Wie die
Hand einer todten Frau, die das Laken über sich ziehen will.

DER JUNGE SYRIER: Ja, aber seltsam! Wie eine kleine Prinzessin, mit
Augen wie Bernstein-Augen. Durch die Wolken von Musselin lächelt das Gesicht
hervor wie eine kleine Prinzessin.

(DER PROPHET kommt aus der Cisterne. Salome sieht ihn an und weicht langsam zurück.)

JOCHANAAN: Wo ist er, dessen Sündenbecher jetzt voll ist? Wo ist er, der
eines Tages im Angesichte alles Volkes in einem Silbermantel sterben wird? Heißt
ihn herkommen, auf dass er die Stimme Dessen höre, der in den Wüsten und in
den Häusern der Könige gekündet hat.

SALOME: Von wem spricht er?

DER JUNGE SYRIER: Niemand kann es sagen, Prinzessin.

JOCHANAAN: Wo ist sie, die vor den gemalten Männerbildern gestanden hat,
vor den buntgemalten Bildern der Chaldäer, die sich hingab der Lust ihrer Augen
und Gesandte ins Land der Chaldäer schickte?

SALOME: Er spricht von meiner Mutter.

DER JUNGE SYRIER: O nein, Prinzessin.

SALOME: Ja, er spricht von meiner Mutter.

JOCHANAAN: Wo ist sie, die sich den Hauptleuten Assyriens gab, mit ihren
Wehrgehängen und bunten Kronen auf dem Kopf? Wo ist sie, die sich den jungen
Männern der Egypter gegeben hat, die in feinem Leinen und Hyacinthgesteinen
prangen, deren Schilde von Gold sind und die Helme von Silber und die Leiber wie
von Riesen? Geht, heißt sie aufstehen von dem Bett ihrer Greuel, vom Bett ihrer
Blutschande, auf dass sie die Worte Dessen vernehme, der dem Herrn die Wege

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 195, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-12_n0195.html)