Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 212
Text
HERODES: Sie ist ein Ungeheuer, deine Tochter; ich sage dir, sie ist ein
Ungeheuer. In Wahrheit, was sie gethan hat, ist ein großes Verbrechen. Mir ist
gewiss, es ist ein Verbrechen gegen einen unbekannten Gott.
HERODIAS: Ich bin ganz zufrieden mit meiner Tochter. Sie hat recht gethan.
Und ich möchte jetzt hier bleiben.
HERODES (steht auf): Ah! da spricht meines Bruders Weib! Komm’! Ich
will nicht an diesem Orte bleiben. Komm’, sag’ ich dir! Sicher, es wird Schreckliches
geschehen. Manasseh, Issaschar, Ozias, löscht die Fackeln aus. Ich will all die Dinge
nicht sehen, ich will nicht leiden, dass all die Dinge mich sehen. Löscht die Fackeln
aus! Verbergt den Mond! Verbergt die Sterne! Wir wollen uns selber im Palaste
verbergen, Herodias. Ich fange an zu erzittern.
(Die Sclaven löschen die Fackeln aus. Die Sterne verschwinden. Eine große Wolke zieht
über den Mond und verhüllt ihn völlig. Die Bühne wird ganz dunkel. Der Tetrarch beginnt
die Treppe hinaufzusteigen.)
DIE STIMME DER SALOME: Ah, ich habe deinen Mund geküsst, Jochanaan;
ich hab’ ihn geküsst, deinen Mond. Es war ein bitterer Geschmack auf deinen Lippen.
Hat er nach Blut geschmeckt? Nein; doch schmeckte er vielleicht nach Liebe
Sie sagen, dass die Liebe bitter schmecke Doch was thut’s, was thut’s? Ich
habe deinen Mund geküsst, Jochanaan, ich hab’ ihn geküsst, deinen Mund!
(Ein Strahl des Mondlichtes fällt auf Salome und beleuchtet sie.)
HERODES (wendet sich um und erblickt Salome): Man tödte dieses Weib!
(Die SOLDATEN stürzen vor und zermalmen SALOME unter ihren Schilden.)
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 212, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-12_n0212.html)