Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 213

Dante von Carl Federn* (Drews, Arthur, Prof.)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 213

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BÜCHER.

Dante von Karl Federn. Leipzig,
Berlin und Wien. Verlag von E. A. See-
mann und der Gesellschaft für graphische
Industrie.

Dieses Werk beabsichtigt nicht, in die
letzten Gründe des vielleicht tiefsinnigsten
und jedenfalls dunkelsten aller Dichter zu
führen. Aber wenn Dante von allen Größen
der Weltliteratur noch immer die fremdeste
und am wenigsten gekannte ist, so will
der Autor wenigstens das allgemeine Ver-
ständnis Dantes erschließen und die aller-
größten Hindernisse beiseite räumen, welche
es oft auch dem besten Willen unmöglich
machen, dem Dichter näherzukommen.
Diese Hindernisse liegen nicht bloß in der
ungenügenden Beschaffenheit der meisten
bisherigen Übersetzungen, sondern vor
allem auch in der Räthselhaftigkeit und
Fremdartigkeit von Dantes Dichtungen.
Für uns ist das Hauptwerk Dantes, die
Göttliche Komödie, das geheimnis-
reichste einer das Mysterium kennenden
Zeit; es beruht auf Welt- und Lebens-
auffassungen, die uns zum größten Theil
entschwunden sind; all die Anspielungen
auf Zeitvorgänge, all die ungezählten
Namen, die das Buch dem mittelalterlichen
Leser reicher und lebendiger erscheinen
ließen, sind für uns, die wir die Namen
nicht mehr kennen, die Anspielungen nicht
verstehen, ebensoviele Hindernisse und
todte Stellen geworden, welche die Lectüre
belasten oder hemmen. Wohl gibt es
zahlreiche Commentare, die jeden einzelnen
Ausdruck bei Dante, jede Anspielung zu
verdeutlichen, jede Wendung zu erklären
bemüht sind, aber sie schrecken vom
Lesen ab und beeinträchtigen auf das
empfindlichste den Genuss der Schön-
heiten. So kommt es, dass zahlreiche,
selbst literarisch gebildete Leute vom
Neuen Leben und der Göttlichen Ko-
mödie nicht viel mehr als die Namen
kennen und jedenfalls weit entfernt sind
von einer wirklichen Kenntnis und Würdi-
gung Dantes.

Diesem Mangel sucht K. Federn da-
durch abzuhelfen, dass er in großen, all-
gemeinen Zügen zunächst ein Bild der
Zeit und der Culturzustände entrollt, aus
denen Dantes Werk hervorgegangen. Diese
Darstellung nimmt den ganzen ersten Theil
des Werkes bis Seite 122 ein, und sie
bildet, wie mir scheint, den Glanzpunkt
desselben. Die Zerstörung der Antike, das
neue sittliche und politische Ideal des
christlichen Mittelalters, der Culturkampf,
die Hohenstaufen, Wissen und Weltan-
schauung, die Scholastik, die Universitäten,
die provencalische oder italienische Dich-
tung, die Franciscaner u. s. w., das alles
wird hier in einer Weise abgehandelt, die
ebenso treffend wie lehrreich ist und in
ihrer Knappheit, Klarheit und Anschaulich-
keit selbst dem genauen Kenner der Ver-
hältnisse Bewunderung abnöthigt. Es sind
lebendige Bilder aus dem Mittelalter, die
der Verfasser aus dem Studium Dantes,
insbesondere aus den Documenten seiner
eigenen Zeit, ihren Chroniken, ihren Dich-
tungen oder Abbildungen gewann, die er
schaute, wenn er Dante las, und die hier
zu einem Culturgemälde dieser wunder-
baren und heute so schlecht verstandenen
Epoche aneinandergereiht sind, wie es sich
in einer so gedrängten Kürze und zugleich
in einer so sprechenden Lebendigkeit viel-
leicht nirgends findet. Wer dieses Gemälde
in sich aufgenommen hat, der wird da-
durch allein schon in den Stand gesetzt
sein, wenigstens das Allgemeine bei Dante
zu verstehen und das mittelalterliche Colorit
der Göttlichen Komödie wird für ihn
viel von seiner Fremdheit verlieren. Dazu
kommt im zweiten Theil des Buches eine
genaue Schilderung Dantes und seiner
Dichtungen selbst. Dantes Werk im allge-
meinen, seine Jugend, die räthselhafte
Gestalt der Beatrice, Dantes Verhältnis zu
Florenz, sein Exil, endlich die große Dich-
tung selbst finden hier eine verständnis-
reiche Darstellung. Was den Verfasser vor
vielen anderen Dante-Erklärern auszeichnet,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 213, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-12_n0213.html)