Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 14, S. 247

Der theosophische Congress zu Paris (Arjuna van Jostenoode, Harald)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 14, S. 247

Text

ARJUNA: DER THEOSOPHISCHE CONGRESS ZU PARIS.

heit in uns selber. Gott kann man
nicht außer sich erkennen; er ist vielmehr
nach der indischen Lehre das Subject
des Erkennens selbst
. Alles Beugen
unter eine sichtbare Autorität kann den
göttlichen Geist nicht in uns groß-
ziehen, hemmt vielmehr sein Hervortreten.
Hat nun die theosophische Bewegung
den göttlichen Geist hinter sich? Ist
die Theosophische Gesellschaft berech-
tigt, sich als Hüterin der alten Traditionen
der weißen Loge hinzustellen? Die Lehren
der Theosophischen Gesellschaft stimmen
überein mit den unsterblichen Lehren
aller alten Religionen des Ostens
.
Sehen wir auf die heute so verachteten
Chinesen, so finden wir die erhabensten
Grundsätze der Moral in ihren ältesten
Schriften. Die Lehren der Inder sind noch
heute unübertroffen. In allen alten Religionen
erscheinen dieselben Symbole; das beweist,
dass alle einen gemeinsamen Ursprung
haben.* — Die Theosophische Gesellschaft
nun ist heute die Hüterin aller dieser Traditi-
onen. In ihr findet man alles aufgespeichert
und erklärt, was bisher achtlos zur Seite
gelegen hatte als »Aberglaube« oder »Un-
sinn«. Sie verlangt keinen Glauben, sie
gebietet keine Unterwerfung; sie legt ihre
Sätze vor und fordert zum Prüfen auf.
Wer nicht glaubt, wird nicht verdammt.
Man soll nur glauben, was man begreifen
kann; sonst hat es keinen praktischen
Wert. Religion muss innerlich erlebt und
darf nicht äußerlich eingepaukt werden
wie das Einmaleins; man wird sonst ober-
flächlich und irreligiös. Dies ist denn auch
der wahre Zustand der heutigen Mensch-
heit. Sie ist materialistisch geworden, weil
sie Gott außer sich suchte, nicht fand und
deshalb leugnete. Gott aber lebt, wie zu
allen Zeiten, so auch heute. Noch leben die
alten Mysterien, und wer anklopft, dem wird
auch heute aufgethan. Suchen muss man. —
Besonders ist es der Glaube an die
Reïncarnation (Wiedergeburt), der uns
fremd geworden ist und den die Theoso-
phische Gesellschaft zu beleben sucht. Man
antwortet stets: Wenn ich früher schon
einmal gelebt habe, wie kommt es, dass

ich mich dessen nicht mehr erinnere? Aber
es gibt Tausende von Menschen, die sich
daran erinnern, namentlich in Asien. —
Mit dem Fortschreiten der Seele schreitet
auch die Erinnerung fort an die durch-
lebte Vergangenheit. Das physische Ge-
hirn kann diese Erinnerung natürlich
nicht haben, weil es neu geschaffen ist.
Aber die Seele (der höhere Manas) behält
die Erinnerung bei und kann sie nach und
nach zum Vorschein kommen lassen. Die
Theorie Darwins, dass wir alles von
den Eltern ererbt hätten, ist unhaltbar.
Ein Genie lässt sich auf diese Weise nicht
erklären, sowenig wie die oft großen Ver-
schiedenheiten von Geschwistern. Wir
müssen vielmehr annehmen, dass wir uns
selbst geschaffen, und dass die Eltern wohl
nur den physischen Körper hergegeben
haben. Dann erst erscheint das Walten
Gottes in einem gerechten Lichte. Hat Gott
die »Seele« geschaffen, dann ist er auch ver-
antwortlich für sie, ist sie aber durch sich
selbst entstanden, dann fällt die Verant-
wortung auf sie selber. So hat jeder
sein Schicksal in seiner eigenen
Hand
. Er kann auch nie die Schuld an
seinem Unglück auf andere abwälzen. Er
ist in bestimmte Verhältnisse gestellt
worden (Karma); nach dem, was er ge-
säet hat in einem früheren Leben, fällt
nun die Ernte aus. Alles beruht auf dem
gerechten Gesetze von Ursache und Wir-
kung. Karma und Reïncarnation
sind die beiden Grundpfeiler der Theo-
sophie, auf denen das Gebäude der Reli-
gion der Zukunft beruht.

Man wirft der Theosophie gern vor, dass
sie einen Unterschied mache zwischen eso-
terischer und exoterischer Auffassung, wäh-
rend dieser Gegensatz im Christenthum über-
brückt sei. Allein dies spricht nicht gegen
die Theosophie, sondern vielmehr gegen die
heutige Auffassung der Kirche. — Alle alten
Religionen haben diesen Unterschied gekannt.
Wenn Sokrates auf die Mysterien zu
sprechen kam, pflegte er zu sagen: »Hier
muss ich schweigen.« Er wusste als weisester
aller Menschen, dass die Wahrheit nicht für
alle ist. Viele Menschen haben nicht die
Fähigkeit, sich auf einen hohen Standpunkt zu
schwingen, sondern kleben am Staube. Thöricht
wäre es also, ihnen hohe Dinge zu sagen oder

* Die Anwendung des Kreuzes verliert sich in die Nacht der Zeiten. Man findet es auf
den ältesten Steindenkmälern Skandinaviens, man trifft es in Amerika, in Egypten, Griechen-
land, Sibirien. Es ist auch in das Erkennungszeichen der Theosophischen Gesellschaft über-
gegangen, wo es den Mittelpunkt des Wappens bildet.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 14, S. 247, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-14_n0247.html)