Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 14, S. 248

Der theosophische Congress zu Paris Die platonische Liebe II. (Arjuna van Jostenoode, HaraldNeera)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 14, S. 248

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NEERA: DIE PLATONISCHE LIEBE.

hohe Thaten von ihnen zu verlangen. Auch
das Christenthum hat anfangs Unterschiede
gemacht. Aber mit der Zeit ist es immer
exoterischer geworden und hat einen Durch-
schnitt gezogen — naturgemäß nach unten.
So ist das Niveau der geistigen Auffassung in
Europa bedenklich herabgedrückt worden,
während es im Orient zu allen Zeiten große
Denker gegeben hat, die so hoch über uns stehen,
dass wir sie fast nicht mehr verstehen. —
Unsere ganze Metaphysik ist kindisch im
Vergleich zur indischen. Die katholische Theo-
logie, die mit bewusster Absicht den veralteten
realistischen Kleinkinderstandpunkt festhält, hat
es dahin gebracht, dass in ihrem Machtbereiche
aller höhere Geistesschwung erlahmte und
die katholischen Völker in geistiger Hinsicht
passive Völker wurden, die in thörichter Ver-
blendung nicht einmal das Licht dort borgen
wollen, wo es strahlt, vielmehr noch glauben,
man müsse bei ihnen Anlehen machen. Wo der
Gläubige nicht mehr weiter kann — und das
tritt bei dem heutigen System naturgemäß bald
ein — verdeckt er das ihm unbekannte X durch
Schlagworte, als da sind: »Gott«, »Geist«,
»Teufel«, »Gnade« u. s. w. In der Theosophie
aber gibt es nichts Unbekanntes. Man kann alles

erkennen, wenn man geistig heranzureifen
weiß. Nicht Worte, nicht Autorität, nicht blinde
Unterwerfung spielen ihre verdummende Rolle.
Ein Wort kann man verschieden auffassen;
es sagt den Menschen, die seine Bedeutung
nicht innerlich erlebt haben, gar nichts. Der
Katholik aber täuscht sich und andere, indem er
bestimmte Worte äußerlich als gegeben an-
nimmt und an sie glaubt, weil man es ihm
gesagt hat. — Wenn ein Heide sittlich lebt,
wird auch das Licht, das jeden Menschen er-
leuchtet, der in die Welt kommt, heller; dazu
sind weder Dogmen noch Priester nöthig. Wie
weit es aber Einer im geistigen Leben bringt,
das hängt von seinem Karma ab. Heilige
werden geboren. Nicht die Laune eines außer-
weltlichen Gottes schafft die Heiligen durch
seine »Gnade«, sondern wer in Tugenden ge-
lebt hat, dem wird bei seiner nächsten Geburt
eine größere geistige Kraft als Mitgift zuge-
legt. Solche außerordentlich begabte Menschen
findet man in allen Religionen. Auf ihnen
beruht der Fortschritt der Menschheit. Auf
ihrem Einfluss beruht die Zukunft der Theo-
sophie, die Erkenntnis, dass wir alle Söhne
Gottes und also Brüder sind.

DIE PLATONISCHE LIEBE.
Von NEERA (Mailand).
II.

In den Memoiren und Briefen be-
rühmter Menschen finden wir fast immer
die Spuren einer ideal gebliebenen Liebe,
die mit ihrem Licht, ihrer Macht und
Wärme das Leben und das Werk des
Genies überstrahlt. Nur ein derber Geist
kann sagen, dass sich in diesen Fällen die
sogenannte Liebe auf einfache »Freund-
schaft« beschränkt habe; dies ist durchaus
nicht wahr. Ich berufe mich hier auf
Schopenhauer und füge hinzu, dass
das, was einfache Freundschaft ist, nie
Liebe, selbst nicht platonische Liebe, werden
kann, während die platonische Liebe im
eigentlichen Sinne eine wirkliche und
echte Liebe ist, die bloß durch die äußeren
Verhältnisse verhindert wird, sich voll-
kommen zu offenbaren, und in ihrer in-
stinctiven Zeugungs-Tendenz sich darauf
beschränken muss, Geist und Gemüth des
geliebten Wesens zu befruchten oder von

ihm befruchtet zu werden. Dies geschieht
gewissermaßen durch eine Art Umformung
des Naturgesetzes, das sich eben auf an-
derer Seite die entgangene Befriedigung
nach Möglichkeit zu verschaffen sucht.
Und ist es im übrigen nicht absurd, dass
man die geringfügigste, albernste Begeg-
nung zweier geschlechtlicher Launen
Liebe zu nennen pflegt, diesen heiligen
Namen aber jenen innigen, lange dauern-
den, tiefen Neigungen zwischen Mann und
Weib verweigert, die nur infolge der Un-
gunst der Zeit oder anderer Bedingungen
zu einer äußeren Vereinigung nicht ge-
führt haben?

Die provençalische Dichtung um das
Jahr 1200, die durch alle blutigen Kriege
hindurch unversehrt bis zu uns gelangt
ist, darunter namentlich das sanfte Idyll
Jauffré Rudels und der Gräfin Meli-
senda, ist auch ein Beweis für jenes

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 14, S. 248, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-14_n0248.html)