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herrliche Streben nach Vergeistigung,
das der Mensch nicht als einzelnes, bizarres
Individuum hegt, wohl aber bewusst oder
unbewusst unter dem geheimen Antrieb
der Weltseele. — Ich weiß wohl, dass
die positive Wissenschaft das Erforschen
statistischer Daten allüberall lehrt, und die
modernen Psychologen, die mit der Wissen-
schaft liebäugeln, lassen es am Aneinander-
reihen möglichst vieler menschlicher »Do-
cumente« nicht fehlen, aber ein Haupt-
fehler dieser Psychologen ist, wie ich
es bereits sagte, dass sie sich fast aus-
schließlich auf ein einziges, einseitiges
Gebiet beschränken. Man glaubt zu sehr,
dass man, um den Menschen zu kennen,
in der sogenannten Gesellschaft ver-
kehren müsse, die ja das eintönigste und
belangloseste Ding ist, das man sich
denken kann. Ich bin überzeugt, dass der
Verkehr mit der Gesellschaft die Kenntnis
des Menschen nicht nur nicht vermittelt,
sondern sogar davon entfernt. Jene,
die zwischen Kleidern und Flittertand
oder zwischen der Flasche und den Spiel-
karten ihre Zeit verbringen, kennen das
Leben einfach deshalb nicht, weil sie
nicht leben, wobei noch hinzukommt, dass
sie ebenso überzeugt sind, es zu kennen,
wie sie überzeugt sind, zu leben. Unter
solchen Umständen »menschliche Docu-
mente« suchen, heißt: das Fischernetz in
einen Sumpf werfen; man fischt nur
Frösche.
Balzac hat ein verhängnisvolles Vor-
urtheil geschaffen, als er in seiner Physio-
logie erklärte: »Que toute femme, qui n’a
pas voiture, n’est pas une femme.« Die
Schriftsteller, die nach ihm kamen, hüteten
sich wohl, das Weib anderswo zu suchen.
Und diese gesegnete Liebes-Psychologie
sah sich denn auch in der That auf den
begrenzten und engen Rahmen der Bühne,
des Wagens und des Hôtel-Garni=Zimmers
beschränkt. Wie armselig für eine Leiden-
schaft, die einen Gott zu ihrem Ver-
treter hat!
Der Typus Jauffré Rudels mag heute
fremd und phantastisch erscheinen, der
wahre Typus jenes provençalischen Ritters,
der sich in die Gräfin Melisenda, Königin
von Tripolis, auf den bloßen Ruhm ihrer
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Schönheit und Tugend hin verliebt hatte
und daraufhin den Ocean durchzog, um
sie zu sehen und zufrieden zu ihren Füßen
zu sterben. Und doch kannte ich in meiner
Kindheit ein junges, schwärmerisches
Mädchen, das sich für die Werke La-
martines lebhaft begeistert hatte und
auf diesem rein geistigen Wege dazu ge-
langte, wahre und echte Liebe für den
achtzigjährigen Dichter zu empfinden; sie
schrieb ihm und erhielt von ihm eine Ant-
wort, die ihr in der eleganten, aristokra-
tischen Handschrift des »Graziella«-
Dichters die sanften, wehmüthigen Klagen
des Greises brachte. Die platonischen Be-
ziehungen, einmal angeknüpft, endeten
nicht mehr. Das junge Mädchen wendete
ihr Bestes an Empfindung daran, die
letzten Tage jenes Dichters, der einst so
süß von Liebe gesungen, durch die innigste
Liebesglut zu verschönen. Der Dichter
starb, das junge Mädchen gründete sich
ein Heim, aber dem ersten Sohn, den sie
gebar, gab sie den Namen Alphonse,
der Nachwelt die süße, tolle Jugendliebe
verschmolzen mit der kräftigen Wesenheit
der Frucht überliefernd.
In einem jüngst in Paris veröffentlichten
Buche spricht Madame Ollivier von einer
anderen vornehmen Frauengestalt, die
gleichfalls eine reine Liebe an den »Schwan
von Milly« fesselte. Es ist Valentine La-
martine, die Nichte des Dichters, die ihm
so heiß zugethan war, dass sie, um ihm
ihr ganzes Leben weihen zu können, keinen
Gatten nehmen wollte. Dieses schwär-
merische Mädchen, das »ein Bedürfnis nach
Hingabe seines ganzen Wesens bis zum
letzten Blutstropfen« in sich verspürte,
begann einen der Briefe an Lamartine
folgendermaßen: »C’est en genoux, à vos
pieds et en couvrant votre main de baisers«.
Dann heißt es darin: »Même au bal quand
j’y vais, je trouve le moyen de m’unir à
vous par Celui qui est le lien des cœurs«.
Lamartine antwortete: »Ah! quelle lettre,
quelle âme, quelle fille, quel ange! Que ta
naissance soit bénie!«
Man wird sagen, dass dies Ȇber-
schwänglichkeiten« der Phantasie sind;
aber die Liebe ist immer eine Über-
schwänglichkeit, ein Fieberzustand. Valen-
tine Lamartine verzichtete mit Freuden
auf die materiellen Befriedigungen, die
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