Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 14, S. 250

Die platonische Liebe II. Die Harmonie der Sphären (NeeraBailly, Edmund)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 14, S. 250

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BAILLY: DIE HARMONIE DER SPHÄREN.

ihr die Ehe verschafft hätte, denn sie
wollte und konnte nicht auf jene erhabene,
vollkommene und bedingungslose Hingabe
verzichten, die sie in ihrer zarten empfäng-
lichen Seele dem einzigen geliebten Manne
zu widmen entschlossen war. Was macht
es, dass das »eheliche Band« — unter
diesem Namen den Menschen bekannt —
die beiden nicht vereinte? Die Kraft der
Liebe liegt in der Liebe und nicht in
ihrer äußeren Form.

Die Liebe, die sich auf den Pfaden
der Gedanken und Gefühle Nahrung sucht,

ist andererseits der wonnigste Lohn für
das Schaffensfieber des Künstlers. Die leiden-
schaftlichen Schriftsteller machten alle ir-
gend jemanden, der sie nie gesehen, in
sich verliebt. Darauf allein sollten die
Menschen eifersüchtig sein! Auf diese er-
habenste Form der Liebe, die um uns
herum webt und lebt, gleich herrlichen tro-
pischen Pflanzen: die Reichen ziehen sie
als Luxus auf ihren Gütern und die Armen
betrachten sie neugierig als Absonderlich-
keit, ohne je daran zu denken, dass es ein
Land gibt, wo diese Pflanzen natürlich
aus dem Erdboden sprießen

Der Schlusstheil dieser Studie folgt im nächsten Hefte.

DIE HARMONIE DER SPHÄREN.
II.
Von EDMUND BAILLY (Paris).

Das System der sphärischen Har-
monien, das Censorin in seiner Schrift
De die natali (I, Cap. 13) dem Pythagoras
zuschreibt, umfasst neun Töne und gehört
dem chromatischen Tongeschlecht der
Griechen an.* Hier seine Eintheilung:

ERSTER TETRACHORD:
Von der ERDE zur SONNE — 1 Ton.
Vom MONDE zu MERCUR — ½ Ton.
Von MERCUR zu VENUS — ½ Ton.
Von VENUS zur SONNE — 1½ Ton.
ZWEITER TETRACHORD:
Von der SONNE zu MARS — 1 Ton.
Von MARS zu JUPITER — ½ Ton.
Von JUPITER zu SATURN — ½ Ton.
Von SATURN zu den FIXSTERNEN — 1½ Ton.

Diese Verhältnisse sind offenbar ins-
gesammt ungenau und deuten wohl nur

die Reihenfolge und Ordnung in den
Wechselbeziehungen der Natur an. Diese
symbolische Gleichstellung und Verbindung
der Planeten mit den Stufen der diatonischen
Leiter wird an anderer Stelle in einer Studie
über die Wandlungen der modernen Scala
eingehend behandelt werden. Gleichwohl
könnten wir hier noch die interessante Art
in Betracht ziehen, in der ein griechischer
Schriftsteller aus der ersten Hälfte des drei-
zehnten Jahrhunderts, Georgios Pachy-
meres, in seinem Tractat über Harmonik
die Planeten-Scala formuliert:

SATURN Nete la
JUPITER Paranete sol
MARS Paramese fa
SONNE Mese mi
VENUS Lichanos re
MERCUR Parhypate ut
MOND Hypate si

* Censorin bringt auch die Musen zu den Planeten in Beziehung. So entspricht Kalliope
der Erde, Thalia dem Mond, Euterpe dem Mercur, Erato der Venus, Melpomene der Sonne,
Klio dem Mars, Terpsichore dem Jupiter, Polyhymnia dem Saturn, Urania dem Firmament.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 14, S. 250, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-14_n0250.html)