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I.
Ich spreche im Namen Derer, die
nicht an das Dasein eines einzigen, all-
mächtigen und unfehlbaren Gottes glauben,
der Tag und Nacht über unsere Gedanken,
Worte und Thaten wacht, der die Ge-
rechtigkeit auf Erden erhält und in einer
anderen Welt weiter fortsetzt. Wenn es
aber keinen Richter gibt, gibt es dann
wenigstens eine Gerechtigkeit über der
von den Menschen geübten, die sich nicht
nur in ihren Gesetzen und Gerichten,
sondern auch in allen, dem jeweiligen
Richterspruch nicht unterstehenden socialen
Beziehungen kundgibt und gewöhnlich
nur durch die öffentliche Meinung, das Ver-
trauen oder Misstrauen, die Billigung oder
Missbilligung unserer Mitmenschen sanctio-
niert wird? Lassen sich die dem Menschen
oft so unerklärlichen Acte der Moral des
Weltalls, die ihn gewissermassen nöthigen,
an das Dasein eines Weltenrichters zu
glauben, auf die sociale Gerechtigkeit
zurückführen und durch sie erklären?
Wenn wir unseren Nächsten getäuscht
oder bezwungen haben, haben wir damit
auch alle Kräfte der Gerechtigkeit ge-
täuscht und bezwungen? Ist die Welt-
geschichte das Weltgericht, und haben wir
nichts weiter zu fürchten, oder gibt es
noch eine tiefere und dem Irrthum minder
unterworfene Gerechtigkeit, die zwar weniger
sichtbar, aber allgemeiner, mächtiger und
durchgreifender ist?
Wer wollte leugnen, dass es eine solche
gibt, und wer fühlt nicht, dass sie un-
widerstehlich ist, dass sie das ganze
menschliche Dasein umspannt und von
einer Weisheit ist, die sich nie irrt noch
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irreführen lässt. Aber wo sollen wir diese
Gerechtigkeit annehmen, seit wir sie aus
dem Himmel vertrieben haben? Wo findet
sie sich, wo waltet sie? Es sind dies
Fragen, die wir uns nicht oft stellen; und
doch sind sie von Belang, denn der Ort,
an dem und von dem aus die Gerechtig-
keit wirkt, wenn sie uns Strafe und Lohn
zumisst, bedingt ihren Charakter und unsere
gesammte Moral, und darum ist es vielleicht
nicht unnütz, zu prüfen, wie es heute in
den Köpfen und Herzen der Menschen um
die große Idee der allmächtigen, mysti-
schen
Gerechtigkeit, die sich seit der
geschichtlichen Ära schon so oft gewandelt
hat, wirklich bestellt ist. Ist dieses Mysterium
nicht ohnehin das höchste und erhebendste,
das uns geblieben ist; steht es nicht in
enger Beziehung zu den andern, und
werden wir durch seine Schwingungen
nicht am tiefsten erschüttert? Möglich, dass
die Mehrzahl der Menschen diese Schwin-
gungen und Wandlungen nicht gewahr
wird, aber das deutliche Bewusstsein ist
in der Entwicklung des menschlichen
Denkens keine unerlässliche Bedingung für
Alle. Es genügt, wenn Einige sich einer
stattgehabten Wandlung bewusst werden,
damit die allgemeine Moral deren Wirkun-
gen erfahre.
Die sociale Gerechtigkeit ist hiebei
natürlich mit in Betracht zu ziehen, d. h.
die Gerechtigkeit, die wir uns im Leben
gegenseitig erweisen, aber wir verzichten
auf Erörterung der gesetzlichen oder po-
sitiven Gerechtigkeit, welche nur die
Organisation eines Theiles der socialen
Gerechtigkeit ist. Wir wollen uns in erster
Linie mit jener unbestimmten, aber wirk-
samen, unfasslichen, aber doch unabweis-
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