Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 14, S. 242

Das Mysterium der Gerechtigkeit (Maeterlinck, Maurice)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 14, S. 242

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MAETERLINCK: DAS MYSTERIUM DER GERECHTIGKEIT.

baren Gerechtigkeit beschäftigen, die alle
Handlungen unseres Lebens begleitet und
durchdringt, billigt oder missbilligt, belohnt
oder bestraft. Kommt sie von außen?
Gibt es unabhängig vom Menschen, im
Weltall oder in den Dingen, ein unbeug-
sames, wachsames und untrügliches Moral-
princip? Gibt es, mit einem Wort, eine
sozusagen mystische Gerechtigkeit?
Oder auch: Geht diese Gerechtigkeit vom
Menschen aus, ist sie ganz innerlich, auch
wenn sie draußen wirkt; oder, um alles
in ein anderes Wort zusammenzufassen:
Gibt es nur eine psychologische
Gerechtigkeit
? Ich glaube, in den
beiden Ausdrücken: mystische Gerechtig-
keit und psychologische Gerechtigkeit
sind die verschiedenen Gerechtigkeits-
formen, die uns heutzutage noch über
der socialen Gerechtigkeit zu bestehen
scheinen, sämmtlich inbegriffen.

II.

Sobald der Mensch von den bequemen,
aber künstlich erleuchteten Pfaden der posi-
tiven Religionen abkommt, kann er — so
glaube ich — noch so sehr auf Illusionen
und Mysterien erpicht sein; wenn er seine
persönliche Erfahrung aufmerksam und
aufrichtig befragt, kann er sich beim
Anblick des äußeren Unglücks, das blind-
lings rings um ihn die Guten wie die Bösen
schlägt, der Wahrheit nicht lange ver-
schließen, dass es in der Welt, in der
wir leben, eine physische Gerechtigkeit,
die moralische Ursachen hat, nicht gibt,
mag diese Gerechtigkeit sich nun in
Gestalt der Erblichkeit, der Krankheit, in
Gestalt atmosphärischer oder geologischer
Phänomene oder in irgendeiner anderen vor-
stellbaren Form äußern. Weder der Himmel
noch die Erde, weder die Natur noch die
Materie, noch der Äther, noch irgendeine
der uns bekannten Kräfte — außer denen,
die in uns sind — kümmern sich um
die Gerechtigkeit oder stehen in einer Be-
ziehung zu unserer Moral, unserem Denken
und Wollen. Zwischen der äußeren Welt
und unseren Handlungen gibt es nur ein-
fache Beziehungen von Ursache und
Wirkung, die völlig außermoralisch sind,
wenn der Ausdruck erlaubt ist. Wenn ich

die und die Unklugheit, den und den Ex-
cess begehe, laufe ich die und die Gefahr
und bezahle der Natur die und die Schuld.
Und da Excess und Unbesonnenheit meist
einen moralischen — oder besser: un-
moralischen — Grund haben, so können
wir es nicht lassen, zwischen der un-
moralischen Ursache und der Gefahr oder
der zu büßenden Schuld eine Beziehung an-
zusetzen und jenes Vertrauen in die
Gerechtigkeit des Weltalls, welche das am
tiefsten wurzelnde Vorurtheil des mensch-
lichen Herzens ist, aufs neue zu bestärken.
Aber dabei verlieren wir aus den Augen,
dass es genau ebenso gekommen wäre,
wenn der Excess oder die Unbesonnenheit
einen unschuldigen oder heroischen Grund
gehabt hätte. Wenn ich mich bei strenger
Kälte ins Wasser werfe, um meinesgleichen
zu retten, oder wenn ich hineinfalle, während
ich ihn hineinzuwerfen suche, so werden
die Folgen der Erkältung in beiden Fällen
die gleichen sein, und keine Macht im
Himmel und auf Erden, außer mir selbst
und dem Menschen (wenn er es vermag),
wird meine Leiden mehren, weil ich ein
Verbrechen begangen, oder mir einen
Schmerz abnehmen, weil ich eine tugend-
hafte That vollbracht habe.

III.

Nehmen wir eine andere Form dieser
physischen Gerechtigkeit: die Erblichkeit.
Auch hier dieselbe Unkenntnis der morali-
schen Ursachen, dieselbe Gleichgiltigkeit.
Das wäre mir in der That eine sonderbare
Gerechtigkeit, welche die Sünden des
Vaters und Urgroßvaters an Sohn und
Urenkel heimsucht! Sie wäre freilich der
menschlichen Moral nicht zuwider, der
Mensch würde sie ohneweiters gutheißen,
sie würde ihm sogar als natürlich, groß-
artig, erhebend erscheinen. Sie würde unsere
Individualität, unser Gewissen, unsere Ver-
antwortlichkeit und unser Dasein ad infinitum
fortsetzen und in dieser Hinsicht in Über-
einstimmung mit einer großen Anzahl von
Thatsachen stehen, die gar nicht zu be-
streiten sind und genugsam beweisen, dass
wir nicht nur auf uns selbst beschränkte
Wesen sind, sondern durch mehr als ein
feines und noch wenig bekanntes Band

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 14, S. 242, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-14_n0242.html)