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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 21, S. 380

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RUNDSCHAU

fördernde Originalität zuerkennen durften, die
allein berufen sein kann, der dringenden
Mahnung Richard Wagners zu folgen (er rief
sie ungeduldig seinen allzu gefügigen Nach-
ahmern zu): »Schafft Neues!«

Mahlers umfangreiches Werk erregte
diesesmal nicht die gewohnte und gefürchtete
Abspannung, welche moderne Leistungen so
oft hervorrufen, sondern von Satz zu Satz
blieb das Interesse aufs höchste gespannt, ja
eine »etwa mitgebrachte Müdigkeit« schwand
vielmehr vor dem kräftigen und kräftigenden
Hauche, der diese Symphonie durchweht.
Diese in ihren einzelnen Theilen durch-
zunehmen, nachdem wir sie nur ein einzigesmal
vernommen und die Partitur nie vor Augen
hatten, müssen wir uns versagen. Auch ist es
wohl fürs Erste viel weniger wichtig, die
einzelnen Sätze der C-moll-Symphonie
kritisch zu besprechen, als das Zutagetreten
dieses Werkes überhaupt zu begrüßen. Von
mächtigem idealen Drange getragen, sehen
wir hier eine künstlerische Individualität, die
»ein neuer Tag zu neuen Ufern lockt«, und
es liegt uns heute vielmehr daran, in Mahlers
C-moll-Symphonie ein verheißungsvolles Symp-
tom zu signalisieren, als zu ermessen, wieviel
ihm noch zu den Ufern fehlt, und voreilig
zu forschen, wie weit ihm sein Tag gerieth.

In diesem Sinne möchte ich sagen, dass
unsere professionellen Kritiker nicht ganz den
richtigen Standpunkt einnehmen. Sie sind zu
sehr besorgt, ihren kritischen Geist allsofort
zu bethätigen, und es liegt ihnen gewöhnlich
viel zu viel an ihrer eigenen Gescheitheit.
Es gibt jedoch Erscheinungen, denen in erster
Linie Anerkennung gebürt, und wo der

mehr oder minder literarische point de vue
von secundärem Belang ist. Obwohl die Sym-
phonie Mahlers von einem höchst dankens-
werten Publicum mit größtem Interesse und
Beifall aufgenommen wurde, hat man meines
Erachtens auf ihren hauptsächlichen Vorzug
doch nicht genügend hingewiesen. Denn sie
ist nicht nur ein »hochinteressantes Werk«,
sondern erhält eine ganz eigene Bedeutung,
die ihr — wenn ich mich so paradox ausdrücken
darf — weniger von den ihr innewohnenden
Vorzüglichkeiten, als von der ganz enormen
Eigenart des Autors erwächst, und dies in
einer Schöpfung, deren programmartiger Auf-
bau sich so unmittelbar an die IX. anschließt,
dass es wahrlich überraschen durfte, hier etwas
Neues und Etwas, das sich zu sagen lohnte,
zu vernehmen. Einer wirklichen Kritik des
Werkes müsste, wie gesagt, eine viel nähere
Kenntnis desselben vorhergehen; wir erwähnen
hier nur vorübergehend, dass der wunderbar
melodische Zwischensatz des Allegro Maestoso
(I. Theil) zu dem unmittelbarst Empfundenen
und Reizvollsten gehört, was wir seit langem
vernommen. — Mahlers Orchestration ist nicht
die des hochmüthigen, in seiner Gelehrsam-
keit oft so virtuosen Contrapunktisten, seine
»Effecte« sind nicht gesucht, sondern von
Leidenschaft beseelt. Deshalb zünden auch
seine plötzlichen unerwarteten Accente, Klang-
splitter, welche die weiche Tonalität des Ton-
stückes so eigenthümlich erhöhen, ohne je den
Eindruck der Frivolität zu erwecken. Das
Riesenhafte ist bei ihm nie hohl, das Getragene
nie langweilig und pompös, wie bisweilen bei
Franz Liszt.

MÜNCHEN. A. K.

Der in diesen Blättern veröffentlichte Aufsatz Paul Deussens (vgl. »W. R.«, IV, 20)
ist ein Bruchstück einer umfangreichen Arbeit: »Persönliche Erinnerungen an Friedrich
Nietzsche«, die demnächst in Buchform erscheinen wird. Wir kommen einem besonderen
Wunsche des hochgeschätzten Verfassers nach, wenn wir hier bemerken, dass seine Arbeit in
ihrem vollständigen Umfange zum größten Theil über Erlebnisse aus gemeinsam verbrachten
Jugendjahren berichtet, vielfach auch an den späteren Briefwechsel mit Nietzsche anknüpft und
nicht etwa bloß die letzte und traurigste Periode im Leben des Freundes behandelt.

Nachdruck der Artikel oder Notizen ist nur mit genauer Quellen-Angabe gestattet.


Herausgeber: Constantin Christomanos und Felix Rappaport. — Verantwortlicher Redacteur:
Anton Lindner.

K. k. Hoftheater-Druckerei, Wien, I., Wollzeile 17. (Verantwortlich A. Rimrich.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 21, S. 380, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-21_n0380.html)