Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 21, S. 378

Religionsphilosophische Vorträge * (Th.)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 21, S. 378

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RUNDSCHAU.

RELIGIONS-PHILOSOPHISCHE VOR-
TRÄGE. In den letzten Tagen des September
hat in München der »fünfte internationale Con-
gress katholischer Gelehrter« stattgefunden.
Dieser war die erste Versammlung der katho-
lischen Gelehrtenwelt in Deutschland. Die Idee
der katholischen Gelehrten-Congresse ist fran-
zösischen Ursprungs, und es haben demgemäß
die beiden ersten Congresse in Brüssel getagt.

Die zahlreichen Theilnehmer an dem
Münchener Congresse, den der Präsident Prof.
de Lapparent am 24. September eröffnete,
waren, wie anerkennend hervorgehoben werden
muss, fortdauernd bestrebt, die Verhandlungen
desselben auf einem höheren Niveau zu erhalten
und Angriffe gegen Andersgläubige auszu-
schließen. Von den Rednern der allgemeinen
Sitzungen, unter denen die hervorragendsten
katholischen Gelehrten, wie Prof. Dr. Willmann,
Prof. Dr. Freih. v. Hertling, Prof. de Lapparent,
Monsignore Duchesne, Prof. Dr. Toniolo u. a.,
sich befanden, erntete wohl den meisten Bei-
fall. Prof. Grisar mit einem Vortrage über
»Einige Anliegen der historischen Kritik«. Er
verurtheilte in demselben mit scharfen Worten
den »Hyper-Conservativismus« in der Kritik,
wodurch populäre Irrungen bezüglich frommer
Traditionen, heiliger Legenden, Reliquien und
ähnlicher Dinge jahrhundertelang erhalten
werden konnten. Die Sections-Sitzungen
brachten eine geradezu erdrückende Menge
von Vorträgen, jedoch waren es leider zum
großen Theil Dissertations-Themata und Mo-
nographien ohne hervortretenderes Interesse.
Actuelle Fragen und wissenschaftliche Pro-
bleme wurden in den einzelnen Sectionen (ab-
gesehen von einigen Vorträgen über social-
wissenschaftliche Probleme, ferner über Alt-
und Neo-Vitalismus und die Natur der Zelle
etc.) nur wenig berührt. Ganz unbegreiflich
erschien es uns, dass in keiner Section die
spiritualistische Bewegung der Gegen-
wart in Betracht gezogen wurde. Man hat
offenbar noch gar kein Verständnis dafür, dass
allem Anschein nach diese Bewegung die
wichtigste des XX. Jahrhunderts sein wird.
Der Einzige, der auf dem Congress ein Wort
darüber sprach, war der »Alterspräsident« des-
selben, Prof. Dr. Sepp. Er fällte zwar, an-
knüpfend an einen Vortrag des Prof. Schanz
über »Aberglaube und Zauberei«, kein beson-
ders günstiges Urtheil über Spiritualismus und
die damit zusammenhängenden mystischen
Bewegungen. Aber er deutete doch wenigstens
darauf hin, dass ein Congress an der Jahr-
hundertwende mit einer Bewegung rechnen
müsse, die bereits nahezu 30 Millionen An-
hänger in allen Ländern gewonnen habe. Man
ist zwar gewohnt, über die oratorische Be-
thätigung der alten Herren bei solchen Ge-

legenheiten zu lächeln. Wir aber glauben, dass
gewisse jüngere Herren allen Grund hätten, die
Worte eines weiter blickenden Mannes, der im
Dienste der Wissenschaft ergraut ist, ernst zu
nehmen. Es wäre nicht unmöglich, dass
man in nicht allzu ferner Zeit bereuen
könnte, über Dinge mit Achselzucken und
spöttischem Lächeln abgeurtheilt zu haben,
deren Tragweite man nicht erfasst hat, und sich
den berechtigten Vorwurf zugezogen zu haben:
»Quod ignorat, blasphemat«. Eine eingehen-
dere Beschäftigung mit pneumatologischen
Fragen sollte doch Denen, welche die tradi-
tionellen Träger des »πνεῦμα« sein sollen, den
Geistlichen, naheliegen.

Im übrigen wollen wir gerne anerkennen,
dass in der religionswissenschaftlichen und
philosophischen Section die Geschichte der
Religionswissenschaft und die indischen Reli-
gionen, welche gegenwärtig so sehr in den
Vordergrund der Interessen getreten sind, ein-
gehender erörtert wurden.

Zunächst sei auf Prof. Hardys Vortrag
über »Die Geschichte der Religionswissen-
schaft« hingewiesen. Er erörterte in demselben,
wie nach anfänglich mehr dilettantischen Ver-
suchen die Religionswissenschaft erst in den
letzten Jahrzehnten durch die Urkunden-Aus-
gaben, namentlich von Seite englischer Forscher,
wie durch Prof. Max Müller, den Herausgeber
der »Sacred Books of the East«, eine feste
Grundlage gewonnen habe. Er kam sodann auf
die gegenwärtig verhältnismäßig noch geringe
Wertschätzung der Religionswissenschaft durch
die Universitäten zu sprechen und legte dar,
wie dringend nothwendig es sei, dass nunmehr
auch eigentliche Lehrstühle hiefür geschaffen
würden, statt die Vorträge über Religions-
wissenschaft Philosophen oder Theologen zu
überlassen. Nach den Angaben des Redners
bestehen gegenwärtig nur fünf Lehrstühle
hiefür, nämlich zwei in der Schweiz (Genf,
Zürich), einer in Italien (Rom), einer in Belgien
(Brüssel) und einer in Frankreich (Paris). In
Frankreich ist bekanntlich in den letzten Jahr-
zehnten viel für die neue Wissenschaft geschehen.
Durch die Munificenz eines Lyoner Bürgers
und Privatgelehrten besitzt es in dem Musée
Guimet ein großartig angelegtes Institut für
religionsgeschichtliche Forschung. Guimet,
dessen Begründer, hatte von einer Orientreise
zahlreiche religionsgeschichtliche Schätze nach
Europa gebracht und dieselben zunächst in
Lyon zu einer Sammlung vereinigt. Später
ließ er dann ein großes Gebäude in Paris für ein
religionswissenschaftliches Museum aufführen
und unterstützte die Forscher auf das frei-
gebigste; die Publication hervorragender reli-
gionsgeschichtlicher Werke ist ihm zu ver-
danken. Frankreich besitzt auch bereits seit

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 21, S. 378, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-21_n0378.html)