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Wer seit einem Jahrzehnt die Wag-
ner’sche Kunst in ihrer Beziehung zum
deutschen Publicum verfolgt, der kann
nicht umhin, die sehr verschiedenen Phasen
ihrer Wirkung in Erwägung zu ziehen, ja
an sich selbst zu erleben. Und gerade der
wissende Wagner-Verehrer, den die Gunst
der Strömung nicht anfeuerte, den ihre
Ungunst nicht beeinflusst, er steht beun-
ruhigt vor einem Problem, dessen Lösung
noch nicht richtig gesucht und noch lange
nicht gefunden wurde, nämlich Wagners
Verhältnis zu einer Zukunft, deren rast-
loser Voranstürmer er gewesen ist. Und
diese heutige Gegenwart, wie verhält sie
sich zu seinen Intentionen? Zwar hat er
am Abend seines Lebens einem der
Wenigen in seiner Umgebung, die ihn
wirklich zu verstehen von der Natur
befähigt waren — Einem, der nun auch
heimgegangen ist — seinen Pessimismus
über jene Zukunft, der sein leidenschaft-
liches Streben galt, aus tiefem Herzen
ausgesprochen. Ob er wohl damals noch
Illusionen darüber behielt, auf welche Art
seine Werke breitgeschlagen, welchen
Zwecken sie dienstbar gemacht würden?
Bestand doch schon so bald in seinem Leben
zwischen seiner Kenntnis der Welt und
seinem Idealismus ein erbitterter Kampf
— und das sind Conflicte, denen auch
die Nachwelt nicht gerecht zu werden ver-
mag, da sie zu sehr um ihre eigene Recht-
fertigung besorgt ist, um gewisse Dinge
näher zu erforschen. — Aber selbst wenn
wir Wagners pessimistische Ahnungen
nicht in Zweifel ziehen, die volle Kenntnis
ihrer Bestätigung wüssten wir ihm lieber
erspart! Wer lüde ihn heute ruhigen Herzens
zu einer Aufführung seiner Werke ein?
Wer hielte ihn nicht vielmehr ängstlich
ab, einer solchen, z. B. auf der kgl.
Hofbühne Münchens, beizuwohnen, dem
Schauplatz jener originalen Muster-Auf-
führungen, welche Denen, die sie erleben
durften, so unvergesslich geblieben sind?
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30 Jahre später, als die alte Stätte noch
im selben Glanze — wenn auch schon
seiner späten Strahlen — stand, bezeichnete
jemand als die gefährlichste Klippe für
die Wagner’sche Kunst die Unauthenti-
cität in der Darstellung der Wagner’schen
Heldengestalten, all die untraditionellen
künftigen Brünhilden und Isolden. Aber
wie schnell die Sonne sinken würde, das
ahnte selbst Der nicht, der jene Besorgnis
aussprach und wie ein Nachtvogel die
Finsternis spürte, so kurz bevor sie herein-
brach. Denn die stets regen Factoren der
Gewinnsucht haben den deteriorierenden
Gang derart beschleunigt, dass ein Jeder
an sich selbst erproben kann, wie sehr
die heutigen Wagner-Aufführungen ihre
Wirkung zu verfehlen bestimmt sind.
Es ist eine alte Thatsache, dass
Missbräuche den Dingen zur Last gelegt
werden, statt den Menschen. Zwar
hätte uns so manches der Menschheit
anvertraute und später vergeudete Gut
diese Erfahrung bringen können. Allein
wie Lichtenberg sagt: »Wir werden durch
Schaden nicht klug, weil er sich uns jedes-
mal in einer neuen Form darbietet«, so
wurden schon die kostbarsten Güter nach
langem Missbrauch als untauglich befunden
und zuletzt über den Haufen geworfen.
Auch heute darf es uns nicht zu sehr
verwundern, wenn unzufriedene Stimmen
sich wieder Gehör verschaffen, theils von
Denen, die zur Wagner’schen Kunst
wirklich keine Fühlung erlangen konnten,
theils von jungen, überreizten Orchester-
Mitgliedern herrührend, welche seinen
Opern ungezählte Male zur Aufführung
verhelfen, bis ihnen die Themen der
Trilogie — alles Sinnes bar — gleich Gassen-
hauern im Gehör haften. Ihren Überdruss
übertragen diese nun auf die Musik
selbst, und meinen damit das Wagner’sche
Problem gelöst zu haben. Sollte übrigens der
von ihnen prophezeite Zeitpunkt eintreffen,
welcher der Wagner’schen Ära ein Ende
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