Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 21, S. 376

Wagner und das »Repertoire« (Kolb, Annette)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 21, S. 376

Text

KOLB: WAGNER UND DAS »REPERTOIRE«.

setzt, so dürfte man sich mit gutem
oder vielmehr mit dem schlechtesten Ge-
wissen eingestehen, dass nichts unterlassen
blieb, was ihn herbeizuführen am geeignet-
sten war. Aber gegen die Wagner’sche
Musik wäre damit auch nicht das Geringste
bewiesen. — Den heute so beliebten
Gemeinplatz: »Classische Musik kann
man jederzeit hören« fördert der reich-
haltige Schatz dieser unvergleichlichen
Literatur; im speciellen aber erprobe
man ihn lieber nicht zu genau, um nicht
am eigenen Überdruss Schaden zu er-
leiden. Wer etwa glaubt, er könne der
Neunten Symphonie mit gleicher Empfäng-
lichkeit entgegenkommen, wenn er sie
innerhalb eines Jahres ein halb Dutzend-
mal zu vernehmen Gelegenheit hätte, der
täuscht sich über sich selbst und hat auch
nicht annähernd einen würdigen Begriff
von der Tragweite dieses Werkes. Hieher
gehört wohl jener melancholische Aus-
spruch Wagners: ein wirklich großer Ein-
druck bleibe einzig in seiner Art und
könne sich in seiner »ganzen Allgewalt«
nicht wiederholen. — Die Musik als
»weibliche Kunst« hat außerdem noch die
Eigenart, dass bei ihr die Stimmung als
eines ihrer Elemente sowohl zu ihrer
Ausübung als Aufnahme gehört. Musika-
lische Gemüther werden dies nicht miss-
verstehen. Sehr fein sagte auch jener
Franzose: »La musique doit toujours nous
surprendre
«.

Aber statt dessen unterzieht man —
dem vorher genannten Gemeinplatz zu-
folge — auch die classischen Werke
neuerdings derselben Procedur, welche die
Wagner’sche Musik so unwürdig herab-
zieht. In der Regel denken die eifrigen
Concert-Abonnenten, das oftmalige An-
hören der größten musikalischen Schöpfun-
gen sei für ihre musikalische Bildung
unbedingt ausschlaggebend; je geläufiger
sie das Schöne vernehmen, desto com-
petenter dünken sie sich geworden, und
mit wahrhaft plebejischem Behagen machen
sie so aus dem Seltensten — das Gewohnte!
Als führten auch zu den Höhen des Parnass
jene bequemen Umwege, auf welchen sich
heute unsere bemittelten Privatiers per
Drahtseilbahn auf die höchsten Berg-
spitzen so mühelos befördern lassen! —
Über die Anforderungen, welche die

Kunstwerke an uns stellen, wird närn-
lich im allgemeinen mit einer wahrhaft
staunenswerten Naivität hinweggegangen,
und doch können wir der Kunst nur dann
theilhaftig werden, wenn wir diese An-
forderungen erfüllen. Und es ist wohl
festzuhalten, was heute so gerne außer-
acht gelassen wird, dass wir in unserer
normalen Gemüthsverfassung keines-
wegs auf einer solchen Höhe stehen, dass sich
unser Wesen so unmittelbar mit jenem
deckte, welches aus den überlebensgroßen
Leistungen zu uns spricht. Ja, diese sind
in Augenblicken so gänzlicher Entrückt-
heit von allem Zeitlichen geschaut, dass
wir in denselben nicht sowohl den Spiegel
des Wesens ihrer Schöpfer selbst, als
deren Fassungs- und Schaffensvermögen
in höchster Potenz erblicken müssen.

Und diese Stunden und Tage äußerster
Anspannung hatten Stunden und Tage voll-
kommenen Rückschlages oder gänzlichen
Ausruhens, wie um jenen Bevorzugten ihr
Gleichgewicht zu bewahren. Dieses Gesetz
der Reaction gilt wohl auch für die Zuschauer.

Was wir daher zu beachten haben, ist,
dass wir dem Gesagten zufolge die Meister-
werke nicht so als unser Erb- oder Antheil
betrachten dürfen. Ihrer theilhaftig zu
werden, verlangt nicht nur eine ganz specielle
natürliche Veranlagung, sondern es bedingt
auch eine momentane Selbst-Entäußerung,
die uns auf eine Weile unserer eigenen
Persönlichkeit enthebt. Wir müssen bezug-
los geworden sein zu jenem Selbst, wie
es Zeit und Raum, wie es die schwere
Alltäglichkeit oft so traurig niederdrückt
und beschränkt. Unser Ich muss zurück-
gesunken sein gleich einer öden Last,
bevor wir Zuflucht, bevor wir Aufnahme
finden an jener Schwelle einer besseren
Welt, die so viel verheißend, aber so hoch
über uns liegt. Dass wir uns aber nur
dann in der Verfassung befinden, die
Wirkung vollkommener Leistungen rein
zu empfangen, weiß Der wohl, der sich
dazu aufschwingen durfte. Er kennt die
kostbare Seltenheit solcher Augenblicke,
er weiß, wie unvergesslich, wie unwieder-
bringlich sie ihm oft bleiben, aber er
kennt auch ihre zerknirschende und doch
so beseligende Ruhe.

Es ergibt sich nun — und wir ge-
langen hier an den wichtigsten Punkt

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 21, S. 376, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-21_n0376.html)