Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 21, S. 370

Die Wahrheit des Individualismus Aus den Lehren der Kabbala (Kuhlenbeck, Ludwig, Dr.Hartmann, Franz)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 21, S. 370

Text

HARTMANN: AUS DEN LEHREN DER KABBALA.

minder ferner wie derjenige Deismus,
der uns zu einem bloßen »Geschöpf«
eines außerordentlichen Schöpfers, zum
Machwerk eines Weltmachers erniedrigt.
Wenn also die heroische Welt-Anschauung
eines Fußpunktes, richtiger eines
Schwerpunktes
bedarf, so kann es nur
der Individualismus sein.

Die unbedingte Verneinung der Wahr-
haftigkeit des Ich, d. h. des Individualis-
mus ist übrigens bislang und wird auch
wohl stets nur bei abstracten Denkern
zeitweilig möglich sein; bei jenen ein-
seitigen Gehirnmenschen (Intellectualisten),
die nach der Erkenntnis-Theorie der
heroischen Welt-Anschauung, die auf der
Dreieinheit des Gefühles, Willens und Ver-
standes beruht, als bloße Drittels-Menschen
bezeichnet werden können. Sehr gut be-
merkt daher Lotze, Mikrokosmos,
I., S. 295:

»Solange wir das alles (nämlich die Energie
des Entschließens, das Wertgefühl der eigenen
Existenz) in uns erleben, wird der Materialis-
mus zwar im Bereiche der Schule, die soviele
vom Leben sich abwendende Gedanken ein-
schließt, sein Dasein fristen und seine Triumphe
feiern, aber seine eigenen Bekenner werden
durch ihr lebendiges Thun ihrem falschen
Meinen widersprechen; denn sie werden alle
fortfahren, zu lieben und zu hassen, zu hoffen
und zu fürchten, zu träumen und zu forschen,
und sie werden sich vergeblich bemühen, uns
zu überreden, dass dies mannigfache Spiel der
geistigen Thätigkeiten, welches selbst die ab-
sichtliche Abwendung vom Übersinnlichen
nicht zu zerstören vermag, ein Erzeugnis ihrer
körperlichen Organisation sei, oder dass das
Interesse für die Wahrheit, welches die einen,
die ehrgeizige Empfindlichkeit, welche andere
verrathen, aus den Verrichtungen ihrer Gehirn-

fasern entspringe. Unter allen Verirrungen
des menschlichen Geistes ist diese
mir immer als die seltsamste er-
schienen
, dass er dahin kommen
konnte
, sein eigenes Wesen, welches
er allein unmittelbar erlebt
, zu be-
zweifeln oder es sich als Erzeugnis
der äußeren Natur wieder schenken
zu lassen, die wir nur aus zweiter
Hand
, nur durch das vermittelnde
Wissen eben des Geistes kennen
,
den wir leugnen

Dass sich dieser Skepticismus, mag
er sich nun in philosophisch scharfsinnige
Beweissätze einkleiden, die übrigens den
Zähnen jener gemalten Hunde vergleich-
bar sind, die mit der Inschrift: Cave canem
die Eingänge einzelner pompejanischer
Häuser mehr verzieren als bewachen, oder
mag er sich in die poetische Klage des
Odysseus (im Ajax des Sophokles) er-
gießen:

»Ach! Dies erkenn’ ich, Alle wir, die Lebenden,
Sind mehr als hohle Schatten nicht und
Traumgestalt«,

im Leben als praktische Philosophie
nicht bewährt, bedarf keiner weiteren
Worte. Eine Welt-Anschauung, die unser
eigenes Selbst zu einem bloßen Phänomen,
das dem Regenbogenschimmer im Wasser-
staube eines Wasserfalles gliche, ver-
flüchtigt, muss im Kampfe ums Dasein
demoralisierend wirken, und zwar demorali-
sierend nicht bloß im Sinne der so-
genannten Philistermoral, sondern in dem
Sinne, in welchem man von Demoralisation
geschlagener Truppen im Felde spricht.
Ihr fehlt es also an dem praktischen
Kriterium der Wahrheit.

(Schluss im nächsten Hefte.)

AUS DEN LEHREN DER KABBALA.*
Von FRANZ HARTMANN (Florenz).

Nach der gewöhnlich angenommenen
Eintheilung ist der Mensch eine Dreiheit,
bestehend aus Geist, Seele und Körper;
der Geist ist mit dem Körper verbunden

durch die Seele (anima), und in dieser
werden wieder zwei Zustände oder Re-
gionen unterschieden, nämlich die anima
divina
oder die Region der höheren

* Theilweise aus dem Englischen übertragen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 21, S. 370, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-21_n0370.html)