Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 21, S. 365

Gedanken vor einem Bilde des Filippo Lippi (Key, Ellen)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 21, S. 365

Text

GEDANKEN VOR EINEM BILDE DES FILIPPO LIPPI.
Von ELLEN KEY (Paris).

Derjenige, der zu derselben Zeit ab-
wechselnd vor großer, älterer Kunst und
vor großer, moderner Kunst steht, sucht
bald für sein eigen Theil nach einer
Antwort auf die alte Frage, worin der
tiefste Unterschied zwischen beiden be-
steht. Man lässt den früheren Satz, dass
die Alten naiv in ihrer Kunst waren,
während die Neuen bewusst sind, nicht
mehr gelten. Die früheren Künstler hatten
weder Perspective noch Geschichte studiert,
was auf uns einen äußeren Eindruck von
Naivetät macht, der unsere Auffassung
irregeleitet hat. Aber die Alten waren
ebenso absichtlich in ihrem Streben nach
einer gewissen Wirkung, ebenso unter-
richtet über die Mittel, um diese Wirkung
zu erreichen, wie nur irgendein Künstler
unserer Zeit. Und sie hatten überdies vor
diesen eine viel sicherere Herrschaft über
ihre Mittel voraus. Wenn man wieder
mit Naivetät eine volle Hingebung an das
Schaffen meint, dann kann sich unsere
eigene Zeit in Bezug auf diese Art
Naivetät wohl mit den Zeiten messen,
in denen die Kunst am höchsten gestanden
ist. Ganze und zersplitterte Seelen hat es
zu allen Zeiten gegeben, ebenso wie
Genies und Virtuosen im Florenz der
Medicäer und in Perikles’ Athen ganz
gewiss so miteinander wanderten, wie in
dem Paris und München unserer Tage.
Aber wenn man sich dieses und noch
mehr gesagt hat, steht man noch immer
vor irgendeiner unschuldsvollen »Ver-
kündigung« oder einem ernsten Antlitz
des Mittelalters und grübelt, warum diese
Bilder es vermögen, den Blick länger
festzuhalten und die Gedanken dauernder
zu fesseln, als die meisten neueren. Sind
es die Einblicke, die sie in eine uns
fremde Zeit, ein uns verschlossenes Seelen-
leben geben, die uns locken, vor diesen
sanften Madonnen in ihren minutiös aus-
gepinselten Zimmer-Intérieurs oder ihren
stilisierten Landschaften zu träumen, vor

diesen Bürger-Typen, bei denen die feste
Modellierung und die klare Pinselführung
offenherzig die ganze wesentliche Wirklich-
keit wiedergibt?

Gewiss, aber damit ist noch wenig
gesagt. Ist es vielleicht der fromme Sinn
und tiefe Blick des Künstlers selbst, der
uns ergreift? Die biographische Forschung
hat doch gezeigt, wie wenig fromm viele
Maler dieser frommen Bilder persönlich
waren; und das psychologische Interesse,
das die auserlesensten Porträts der Neu-
zeit schafft, war nicht einmal bei den
großen Meistern der Renaissance vor-
handen. Was war es also — außer einer
überlegenen Herrschaft über die technischen
Mittel —, was die Alten besaßen, aber
die Neueren oft entbehren?

Mit dieser Frage stand ich eines
Tages vor einer ganz kleinen Leinwand
des Filippo Lippi. Einige Heilige sitzen
auf einer halbrunden Marmorbank in einem
Lorbeerhain. Alle himmlischen Attribute
fehlen; man könnte ebenso gut glauben,
die frommen Männer befänden sich in
einem irdischen Hain, wenn nicht der
verschiedene Ausdruck auf den verschie-
denen Gesichtern offenbarte, dass sie jene
Art von Seligkeit empfinden, welche die der
Ewigkeit ist, die Seligkeit, die nach einem
tiefen Dichterwort darin besteht, schicksals-
befreit zu sein! Dies, was auf Erden nur
durch die Resignation des Alterns oder
des Selbstaufgebens erreicht werden kann,
ist das Glück der Seligkeit. Und der Ein-
druck dieses Glückes wurde durch dieses
Bild so stark, dass es mich dünkte, als
könnte die Ewigkeit wie ein Tag schwinden,
wenn man nur ein lauschendes Blatt auf
einem der Bäume hinter der Marmorbank
sein dürfte, auf der Leonardo, Michel-
Angelo und Rembrandt ihre Eindrücke
der himmlischen Harmonien austauschten.

Dieses Gefühl führte mich nicht nur
zu der Frage zurück, mit der ich vor
dem Bilde Halt gemacht hatte, sondern

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 21, S. 365, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-21_n0365.html)