Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 418

Text

RUNDSCHAU.

eines echten Mahatmas (Meisters) vor und
kommt bei Besprechung einreiner Punkte
den Anschauungen moderner Theosophen und
Mystiker ziemlich nahe. Abgesehen von Miss-
verständnissen und irrthümlichen Angriffen ent-
halten Müllers Studien über Theosophie viele
für Freund und Feind beachtenswerte Ge-
danken und Klarlegungen. Indem er vorerst
noch den Nutzen des vergleichenden Studiums
der Religion und die historische Verwandtschaft
alter Religionen und Philosophien erörtert, erklärt
er, er habe nie ein Hehl aus seiner Überzeugung
gemacht, dass ein vergleichendes Studium der
Religionen der Welt den Glauben an unsere
eigene Religion nicht nur nicht untergräbt,
sondern vielmehr nur dazu dient, uns deutlicher
sehen zu lassen, worin der unterscheidende
und wesentliche Charakter der Lehren Christi
besteht, und uns hilft, den starken Felsen zu
entdecken, auf den die christliche sowohl, als
jede andere Religion gegründet sein muss.

Auf den Grundgedanken der Theosophie,
die Einheit der Seele mit Gott übergehend,
führt Müller ungefähr Folgendes aus:

Es gibt Religionen, in denen für eine
Annäherung der individuellen Seele an Gott
oder für den Glauben, dass sich die Seele in
Gott wiederfinde, gar kein Platz zu sein scheint.
Während der Buddhismus in seiner ursprüng-
lichen Form, d. i. in seiner agnosticistischen
Richtung, von keiner objectiven Gottheit »von
nichts, dem die subjective Seele sich nähern
oder womit sie vereint werden könnte, etwas
weiß«, ist dagegen »im Judenthum der Begriff
der Gottheit so stark ausgeprägt, so objectiv,
dass eine Annäherung an oder eine Vereinigung
mit Jehovah geradezu als eine Beleidigung der
Gottheit angesehen worden wäre«. Die meisten
Philosophien und Religionen der alten Welt
begnügten sich mit der Vorstellung, dass die
individuelle Seele sich immer mehr dem
Göttlichen nähere und, einer objectiven Gott-
heit von Angesicht zu Angesicht gegenüber-
stehend, ihre irdische Individualität beibehalte.
Es hat nur eine Religion oder eine religiöse
Philosophie gegeben: die der Vedanta, die auf
Grund der festen Überzeugung, dass die
menschliche Seele niemals von der göttlichen
Seele getrennt gewesen sein konnte, die Rück-
kehr der Seele zu Gott oder ihre Annäherung
an Gott bloß als eine Metapher ansah,
während sie das höchste Glück der Seele in
dem Entdecken und Wiederfinden ihrer wahren
Natur als von Ewigkeit her und in alle Ewig-
keit mit Gott eins seiend, erblickte.

Müller stellt in seinen Klarlegungen eine
fortwährende Action und Reaction in der
Entwicklung religiöser Ideen fest. Er er-
klärte: »Auf die erste Action, durch die das
Göttliche von dem menschlichen Verstande
getrennt und beinahe aus seinem Gesichts-
kreise entfernt wurde, folgt eine Reaction,
die die beiden wieder zu vereinigen suchte«.
Am ausgeprägtesten findet er diesen Process
im Judenthum und dessen Übergang zum
Christenthum; nirgends ist der unsichtbare
Gott weiter von der sichtbaren Welt entfernt

gewesen, als in der altjüdischen Religion, und
nirgends sind die beiden wieder so nahe an-
einander gereiht und eins gemacht worden,
als durch jene Grundlehre des Christenthums,
die göttliche Sohnschaft des Menschen.
Diese Reaction ist seiner Ansicht nach durch
die historische Berührung zwischen semitischem
und arischem Denken, hauptsächlich zu
Alexandria, hervorgerufen oder doch beschleu-
nigt worden; in diesem Punkte geht Müller,
wie er selbst zugesteht, weit über Harnack,
Drammond, Westcott und andere hinaus, die.
wie er glaubt, dem Einfluss der griechischen
Philosophie in der Bildung der ältesten christ-
lichen Theologie zu wenig Bedeutung bei-
messen, während ohne diesen Einfluss »die
Theologie von Alexandria unmöglich gewesen
oder doch vermuthlich nie über den Talmud
hinausgerückt wäre«.

»Was bei mir«, so sagt er, »indem ich mir
diese Meinung gebildet habe, mehr als irgend
etwas anderes in die Wagschale fällt, sind die
Thatsachen der Sprache, die philosophische
Terminologie
, die sowohl Juden, wie
Philo
, als auch Christen, wie St. Clemens,
anwenden, und die offenbar aus der griechischen
Philosophie herübergenommen sind. Wer
immer Ausdrücke wie λόγος, das Wort, Μονογενής,
der Eingeborene, Πρωτ ότόϰος, der Erstgeborne,
Υἱὸς τοῦ Θεοῦ, der Sohn Gottes, gebraucht, hat
die eigentlichen Keime seiner religiösen Ge-
danken der griechischen Philologie entlehnt«.
Diese derart nach Müller ausschließlich arische
Lehre vom Logos ist für ihn das eigentliche
Herzblut des Christenthums. In seinen weiteren
Darlegungen erklärt Verfasser noch, dass, wenn
wir uns einmal in die Gedanken des Philo
und des Clemens von Alexandrien als der
Vertreter jüdischer und christlicher Theologie
von Alexandrien hineingelebt haben, wir finden
werden, wie eng die Lehre von der Incarna-
tion mit der von dem Logos zusammen-
hängt und ihre wahre historische Erklärung
von dieser und nur von dieser allein empfängt.
Müller verweilt noch längere Zeit bei diesem
Begriff des alexandrinischen Christenthums.
der selbstverständlich in theologischen Kreisen
Widerspruch erregen musste, und verfolgt
sodann den Logos-Begriff in der lateinischen
Kirche und geht schließlich zum späteren
mystischen Christenthum, zur christlichen
Theosophie, über. Er deutet darauf hin,
dass die abschließenden Vorlesungen hierüber
eigentlich den Schlüssel zur ganzen Serie
enthalten und von allem Anfang an das End-
ziel bildeten, das er vor Augen hatte. Sie sollten
der Deckstein des Bogens sein, der auf den
zwei Pfeilern der physischen und der anthropo-
logischen Religion ruht und die beiden zu dem
wahren Thore des Tempels der Zukunfts-
Religion vereinigt. Besondere Aufmerksamkeit
wendet er der Lehre des Meister Eckhart
zu, indem er auf ihr Verhältnis zu dem End-
ergebnis der Vedanta-Philosophie und ihre
Bedeutung als klarste Darstellung des Logos-
Begriffes hinweist. Obgleich die wahre Be-
deutung der Worte des vierten Evangeliums

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 418, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-23_n0418.html)