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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 1, S. 4

Text

SWINBURNE: DIE DICHTUNGEN DES DANTE GABRIEL ROSSETTI.

Das Gesammtwerk, aus diesen kleineren
Stücken aufgebaut, zeigt die nämliche
wundervolle Übereinstimmung zwischen
künstlerischer Absicht und künstlerischem
Gelingen. Von seiner »Muse« heißt es
mit Recht in einem Gedicht:

»Whose speech Truth knows not from her
thought
Nor Love her body from her sone.«

In der That, man muss der Welt dieses
Dichters mit Liebe nahen, um deren er-
lauchte Schönheit völlig zu genießen. Man
muss diese adeligen, schleierverhüllten
Gebilde nicht analysierend, sondern mit
reinen, zur selbstvergessenen Trunkenheit
gewillten Sinnen betrachten. Seit Dante
in der »Vita Nuova« seiner Jugend
ein leuchtendes Denkmal errichtet, hat
Dante Gabriel Rossetti, sein Namensbruder
und Übersetzer, als Erster wieder einen
gleich mächtigen Ton angeschlagen

Andere Theile des Werkes Rossettis
sind nicht bloß von hohem künstlerischen,
sondern überdies von starkem persönlichen
Reiz. Ich hebe von diesen — abgesehen von
dem Sonett, welches die »Dunkelheit«
Dantes beleuchtet — die Dichtung »Dante
at Verona
« hervor. Dieses Gedicht ist einer
besonderen Krönung wert. Was Geschichte
und Sage von Dantes Verbannung über-
liefern, dies alles ist als Motiv zu diesem
mächtigen Standbild aus getriebenem Gold
benützt. Man findet darin selbst jenen
berühmten Brief wieder, in dem Dante
die Erlaubnis zur Rückkunft in die geliebte
Vaterstadt, doch unter schmählichen Be-
dingungen, mit Worten von flammender
Gewalt stolz zurückwies, wie solche seit-
dem nur von Einem gebraucht wurden:
von Milton als Antwort auf den Hohn
Derer, die Spott mit der Blindheit des
Greises trieben. Der Brief Dantes —
niedergeschrieben im Jahre 1316 — lautet
wörtlich:

»Non est haec via redeundi ad patriam,
Pater mi; sed si alia per vos aut deinde
per alios invenietur, quae famae Dantis
atque honori non deroget, illam non lentis
passibus acceptabo. Quod si per nullam
talem Florentia introitur, sunquam Floren-
tiam introibo. Quidui? Nonne solis astro-
rumque specula ubique conspiciam? Nonne
dulcissimas veritates potero speculari ubique
sub coelo, ni prius inglorium, immo in-

gominiosum, populo Florentinaeque civi-
tati me reddam? — Quippe nec panis
deficiet.« Rossetti hat dies in die knappen
Verse gegossen:

»That since no gate led, by Gods will,
To Florence, but the one whereat
The priests and money-changers sat,
Ne still would wander: for that still,
Even through the bodys prison-bars.
Nis soul possessed the sun and stars.«

Diese wenigen Zeilen und die darauf
folgenden athmen den ganzen zornigen
Stolz des Dante-Briefes, dieser Gedenk-
tafel, deren eherne Lettern uns heute noch
in der Urschrift mit Wehmuth und Ent-
zücken erfüllen, mit doppelter Ergriffen-
heit aber in der Nachdichtung Rossettis,
der Dantes, des Vaterlandsfreundes, Erb-
schaft auch in dem Sinne angetreten hat,
dass er dessen Schicksal, in die Verbannung
gehen zu müssen, theilte. Das Gedicht
ist, um wieder von dem Künstler Rossetti zu
reden, groß gedacht und gestaltet; nirgend-
wo ein Ermatten, überall der gleich volle
Klang. Die wenigen polemischen Stellen,
gerichtet gegen die staatliche Fürsorge
um das allgemeine Wohl, welches in
Wahrheit allgemeinstes Übelbefinden be-
deutet, zeugen von einem Vermögen
plastischer Satire, das an den Grimm
Byrons und Hugos gemahnt, dort, wo
er am hellsten flammt. Eine zweite
Dichtung Rossettis, die den vaterländischen
Charakter an der Stirne trägt, verdient
dem »Dante« gleichgestellt zu werden;
ich meine »Last Confession«. Der
dramatische Zug dieser Dichtung, der
ganzen Gliederung und des Details offen-
bart Reichthum und Kraft seines Genius!
Die wundervolle Einfachheit der Grund-
auffassung, die dabei weder Lebens-
wahrscheinlichkeit, noch strengste poetische
Motivierung außeracht lässt, erinnert an
die großen Maler, an Giorgione und
Carpaccio. Feinster Künstler-Instinct und
vornehmste Cultur haben ein Gedicht wie
»Last Confession« geschaffen. Das Thema
ist folgendes: Ein junger Mensch liest ein von
den Eltern in einer Zeit der Hungersnoth
ausgesetztes Kind vom Wege auf, birgt es,
hängt sein Herz immer mehr an das auf-
blühende Mädchen, um plötzlich in einem
grellen Lachen, in einer unbedachten Be-
wegung, in einem undankbar-schamlosen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 1, S. 4, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-01_n0004.html)