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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 1, S. 6

Text

SCHUR: VOM ZUKÜNFTIGEN GEISTE.

oder »Dipsychus« ausspricht, gemeinsam.
Rossetti ist keineswegs durch irgend-
welchen Dogmen-Fanatismus, sondern
durch die geheimnisvolle Lockung des
Mysteriums, durch die dämmernde Musik
des katholischen Gottestraumes gewonnen
worden. Von den seligen Inseln des Mär-
chens und der Sage her haben die Heiligen-
Sirenen diesen Schiffer durch alle Oceane
des Traumes zu sich herangelockt. Dieser

rein artistische Katholicismus scheidet
Rossetti von allen anderen Künstlern, die
solche Fragen erörtert haben. Er hat an
keine andere Heiligkeit gedacht, als an die
der Farbe. So Rossetti in seinen religiösen
Dichtungen. Unter diesen gebürt die Palme
der wundervollen »Blessed Damozel«.
Dieses Gedicht, »süßer denn Honigseim«,
hat unter allen Werken Rossettis die
weiteste Verbreitung gefunden.

(Schluss folgt.)

VOM ZUKÜNFTIGEN GEISTE.
Von ERNST SCHUR (München).

Als ich die ersten Schritte in ein
reiches Leben that, war das stärkste Ge-
fühl, das über alle anfängliche Sucht, den
Anderen gleich zu werden, herrschte, dem
ich mich nach Wandlungen und Über-
windungen immer hingeben musste: ich
war anders wie die Anderen.

Wenn ich es noch schärfer ergründe:
in mir war der Wunsch latent, allen
gleich zu sein. Dieser Wunsch blieb aber
Wunsch und ich blieb ich. Entsprang
dieser Wunsch doch zumeist dem Streben,
über Kluft und Dissonanzen, die ich noch
nicht zu rechtfertigen, zu begründen
wusste, hinwegzukommen. Es erschien
mir — so handelte ich auch instinctiv —
wahrer und echter, mich fest und klar
zu entwickeln, als Anderen mich anzu-
passen. Dieser Drang war aber so un-
willkürlich, so selbstverständlich, dass ich
eigentlich von »Drang« dabei gar nicht
reden kann. Vielen erschien ich sogar zu
weich, zu zart, zu empfindend.

Ich nahm das Weltbild in mich auf,
so umfassend es nur möglich war, und
wollte es nicht trüben.

Es liegt kein Stolz darin; auch kein
Urtheil.

Mag ich ja vielleicht schwächer, hin-
gebender, willenloser gewesen sein, ohne
Zusammenhangsgeist, ohne Entwicklungs=
drang; ein Mensch, den man als Gast,

nicht als Haupt, als Führer anzusehen
gewohnt ist.

Aber das war ohne Zweifel: ich war
anders. Das fühle ich jetzt deutlich;
damals sah ich keine Trennung. Hätte
mir damals einer davon gesprochen, hätte
ich vielleicht leise, ganz leise nur geahnt,
wie es gemeint war — dann hätte ich
es schroff zurückgewiesen, ich hätte es
nicht begründen können.

Ich sah um mich ein Streben, ein
Wollen, eine Sucht, zu ändern, zu bessern,
die ich begriff, aber nicht bejahte.

Wenn ich hier sage, wie es erschien,
so thue ich es auf die Gefahr hin, als
aufdringlich und eingebildet zu gelten.
Mich leitet nur die Wahrheit, und ich
gehorche zu sehr dem Drang nach Klar-
heit, als dass ich mich durch äußere
Rücksichten irgendwie beirren lassen sollte.
Ich nehme auch alle Folgen, die daraus
entstehen sollten, auf mich, da sie mich
nicht kümmern.

Es wird Einigen, später Vielen wert-
voll sein; zudem liegt eine tiefe, allgemeine
Wahrheit darin, die durch die Freiheit
eines Bekenntnisses klarer wird, als durch
objective Worte.

Und ich weiß aus innerster Über-
zeugung, dass mich mit allem Lebenden
und Nichtlebenden ein tiefer Zug verbinden
wird.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 1, S. 6, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-01_n0006.html)