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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 1, S. 7

Text

SCHUR: VOM ZUKÜNFTIGEN GEISTE.

Ich sah überall den »Willen«.

Ich sah überall ein Ringen, Kämpfen.
Es erschien mir bald selbstverständlich;
aber würde mir jemand gesagt haben, ich
sollte diesem Zuge folgen — ich hätte
gelächelt.

Es erschien mir, als wäre ich nach
diesem Kampfe geboren; als ein Anachro-
nismus würde ich hier mit eingreifen; als
wäre ich dieses Kampfes Herr, ohne mit-
gekämpft zu haben.

Ich sah überall den »Willen«, der mir
in der Form, wie er sich oft äußerte,
äußerlich erschien.

Es war nur »Trieb«.

Ich plagte mich nicht um Werte und
Umwerte, um Sehnsucht und Kritik.

Dies war das Eine.

Und weiter. Es gab keinen Riss in
meinem Leben.

Jeder, den ich traf, hatte sich in
blutendem Kampfe behaupten müssen, so
hörte ich. Ich sah Familienleben zerstört;
ein Leben abseits von Gesellschaft und
Leben. Das alles gab den Menschen einen
gemeinsamen Stempel. Sie waren von
einem Stamme.

Ich weiß, dass auch an meinem Leben
manches Schicksal zerrte und im Drange,
gleich zu werden, hielt ich es wohl als
Pflicht, zu trennen, zu scheiden.

Aber in Wahrheit: es gab keinen Riss
in meinem Leben, oder besser: ich fühlte,
ich empfand, ich sah keinen Riss in
meinem Leben.

Als Der, dessen stillen Charakter ich
als mir ähnlich am meisten liebte, an
dem Tage, der alle Gefühle der Gemein-
samkeit in den strahlendsten Lichtern auf-
blühen lässt, Thränen um meine Ent-
fremdung vergoss, die mir blutiger waren,
als meine tiefsten Schmerzen; als er am
Weihnachtsabend voll tiefster Trauer in
die dunkle Nacht mich verließ — da fühlte
ich keinen Riss.

Ich fühlte die Trauer; doch mehr noch
fühlte ich, höher, als alle Worte, den
himmlischen Trost, dessen mein Vater in
seinem heiligen Schmerze sicher war.

Ein weiter Garten lag vor mir, so reich,
so voll aller Tiefen und Offenbarungen, dass
ich mein Leben zu eng wähnte, um alles
erkennen zu können.

Vieles verließ ich, was Andere fesselt,
diesem Zuge folgend. Ich wartete auf
alles, was kam; ich zwang die Liebe
nicht zu mir; in einer kurzen Spanne Zeit
gab sie mir viel; ich wähnte damals
alles. Die Erkenntnis, dass auch sie für
mich nur ein Durchgang sei, traf mich
am tiefsten.

Ich gab mich hin. Weniger Augen-
blicke erinnere ich mich; einer der
schönsten war der, wenn ich mich in klarer,
ruhiger Selbstvergessenheit aus dem Fenster
meines einsamen Zimmers lehnte, die
Bäume des Parkes sah, die ich alle Tage
erblickte, die Menschen sah, die alle Tage
zur bestimmten Stunde kamen; die Nacht
in tiefen Zügen athmen hörte. In seinen
kleinsten Momenten belauschte ich das
Leben; ich fühlte es leben.

Nichts erschien mir so schön, als ein
unendlich weiter Horizont.

Und dann war es mir zuweilen, als
arbeitete alles für mich, alles lief in mir
zusammen; ich war der ruhende Mittel-
punkt alles Erschaffenen. Niemals nach
rückwärts sehend, hieß ich Andere aus-
schauen und streiten.

Ich suchte nie das Besondere, das
Auffallende; das Allgemeine, Gemeinsame
zu finden, war mir Herzensbedürfnis. Das
Gemeinsame war in mir.

Nach den unwegsamsten, entlegensten
Streifzügen kehrte ich, Erneuerung suchend,
gern zu dem zurück, was unser aller Aus-
gang ist. Ich entfernte mich nicht aus
dem Leben. Ich fand Gefallen und Stär-
kung an den kindlichen Vergnügungen
des Volkes; ich liebte selbst die lauten
Äußerungen eines ersten, allgemeinen
Empfindens; je mehr ich dem Gemein-
samen mich näherte, desto ruhiger wurde
ich. Ja, es war Genesung für mich nach
langer Krankheit.

Und mich immer klarer zu entwickeln,
erschien mir als Dank und Verpflichtung.

Nie floh ich die Feste, die Launen
des gemeinsamen Haufens. Damit war ich
Vielen, die mich dunkel ahnten, dunkel
und unsicher an mich glaubten, fremd.
Ohne Rechenschaftsbedürfnis handelte ich
und that recht.

Denn nichts trennt mich von dem
Geringsten; ich fühle keinen Abstand
zwischen mir und Anderen, da alles andere

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 1, S. 7, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-01_n0007.html)