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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 1, S. 9

Text

KASSNER: ZUM TODE OSKAR WILDES.

mir früher. Die Empfindung ist in mir
das Primäre.

Es gibt außer dem allgemeinen Mensch-
heitsleben zwei Dinge, die mein Leben
eine geraume Zeit erfüllten und mir das
Schönste gaben, was Menschengabe sein
kann: die japanische Kunst und die Seele
des russischen Volkes.

Die erste bestärkte die feine Liebe
zum Kleinsten; die andere gab mir den
unendlichen Horizont der unbewussten
Empfindung.

Die Naturwissenschaften gaben mir das
Verständnis meiner selbst und des Alls und
die Stellung zu einander. Die Naturwissen-
schaften gaben mir überhaupt die tiefste,
beruhigendste Gewissheit, wie keine Kunst
der Vergangenheit, die Kunst keines Volkes
sie mir geben konnte. Es ist mir sicher,
dass für einen großen Künstler die Aus-
einandersetzung mit der Geschichte der
Entwicklung unerlässlich, ja sittliche Noth-
wendigkeit ist.

So merkte ich, dass die verschiedenen
Aufeinanderfolgen — Denken und Em-

pfinden — im Ziel zusammentreffen. Ein
noch nicht klares Gefühl — das letzte
Ergebnis, der Punkt, auf dem ich mich
jetzt befinde — sagt mir, dass dieser
Gegensatz sich auflöst, dass die verschie-
denen Schattierungen der künstlerischen
Erscheinungen sich aus der Art und
Weise der Mischungen dieser Gegensätze
ergeben.

Und ganz hinten, im letzten Ver-
schwimmen der äußersten, feinsten Be-
trachtung eine aufdämmernde Ahnung:

Der, der den Willen verachtete, ward
Wille.

»Trieb« vereinigt sich reinigend mit
dem »Willen« und wird »Stil«.

Doch das ist noch zu sehr Entwick-
lung und Ahnung. Ich nehme es dank-
bar an; es ist mir ein neuer Beweis der
Einheit alles Erschaffenen.

Ich nehme es dankbar an, ahnend,
dass auf diesem Boden der Baum wächst,
der die Menschheit noch einmal beschatten
wird; dass dies der Geist ist, dem die Zu-
kunft die Krone gibt.

ZUM TODE OSKAR WILDES.
Einiges über das Paradoxe.
Von RUDOLF KASSNER (Wien).

»On peut adorer une femme et aller chaque soir
chez les filles.«

(Aus Flauberts Briefen an Mme. X )

Ich will nicht versuchen, von den
Werken Oskar Wildes zu sprechen, von
seinen Dialogen, seinen Gedichten in Prosa,
von seinen Romanen und Theaterstücken.
Ich bewundere die Intentionen; kein Eng-
länder hat freier, nur Ruskin hat origineller
und Pater tiefer über die Kunst geschrie-
ben; ich liebe seine Poems in Prosa. Sein
Roman »The Portrait of Dorian Gray« ist
zum mindesten curios, seine Theater-
stücke kenne ich nicht, und den Umstand,
dass sie in England* gespielt werden, lasse
ich mir vorläufig als Einwand gegen sie

gelten. Trotz allem — sein Werk ist
noch keine That gewesen, es beweist für
sich selbst wenig und deutet nur vieles an.
Oskar Wilde war eine schöne Möglichkeit.
Mir sei er hier wenigstens ein rein musi-
kalisches Problem, das heißt: ein Problem
für viele. Gerade bei ihm scheint mir
diese Art, den Menschen und sein Werk
wahrzunehmen, die natürlichste und noth-
wendigste.

Oskar Wilde war ein Verführer und
Poseur, genial und kokett, gewissenlos
und immer vorbereitet, ein Träumer und

* Das hervorragendste Werk Wildes, die »Salome« — hier im Sommer veröffentlicht —
ist in Paris von der Bernhardt aufgeführt worden.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 1, S. 9, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-01_n0009.html)