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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 52

Text

GIDE: PHILOKTET ODER DER TRACTAT VON DEN DREI LEBENSANSCHAUUNGEN.

Pfeile, kraft einer letzten Tugend,
Griechenland den Sieg verleihen könnten.
Und darum sind wir geschieden — ge-
segnet sei das Los, das uns bestimmte,
und darum scheint es, dass jetzt, wo
wir an diese ferne Insel gekommen
sind, an uns, die wir frei von jeder
Leidenschaft sind, unsere großen Ge-
schicke sich erfüllen werden und unser
Herz hier nach reinerer Ergebung zur
reichsten Tugend gelangen werde.

Neoptolemos: Ist das alles, Ulys-
ses? Und jetzt, nachdem du so gut
gesprochen hast, was glaubst du, thun
zu müssen? Denn mein Geist weigert
sich noch, voll deine Worte zu ver-
stehen Sage: Warum sind wir her-
gekommen?

Ulysses: Um den Bogen des Her-
kules zu nehmen; hast du das nicht
verstanden?

Neoptolemos: Ulysses, das also
ist dein Gedanke?

Ulysses: Nicht mein Gedanke, aber
der, den Götter mir gaben.

Neoptolemos: Philoktet wird den
Bogen uns nicht geben wollen.

Ulysses: Dann werden wir uns
seiner mit List bemächtigen.

Neoptolemos: Ulysses, ich hasse
dich! Mein Vater hat mich gelehrt, mich
niemals einer List zu bedienen.

Ulysses: Sie ist stärker, als die
Kraft; diese wartet nicht. Dein Vater
ist todt, Neoptolemos; ich lebe noch.

Neoptolemos: Sagtest du nicht,
es sei besser, zu sterben?

Ulysses: Nicht, dass es besser,
nur dass es leichter sei, zu sterben.
Nichts ist zu schwer für Griechenland!

Neoptolemos: Ulysses, warum
hast du mich gewählt? Und warum
brauchtest du mich zu einer Handlung,
der meine ganze Seele widerstrebt?

Ulysses: Weil ich allein sie nicht
thun kann; Philoktet kennt mich zu
gut. Wenn er mich allein sieht, wird
er irgendeine List argwöhnen. Deine
Unschuld schützt mich. Gerade du
musst die That vollbringen!

Neoptolemos: Nein, Ulysses; beim
Zeus, ich werde es nicht!

Ulysses: Kind, sprich nicht von
Zeus. Du hast mich nicht verstanden.
Höre mich. Weil meine gepeinigte Seele
sich verbirgt und annimmt, glaubst, ich
sei darum weniger traurig, als du. Du
kennst Philoktet nicht, aber Philoktet
ist mein Freund. Mir ist es härter, als
dir, ihn zu verrathen. Die Gebote der
Götter sind grausam, aber sie sind die
Götter. Und wenn ich dir im Boote
davon nicht sprach, so war es, weil
mein trauriges Herz selbst an Worte
nicht mehr dachte Aber du ereiferst
dich wie dein Vater und hörst nicht
mehr die Vernunft.

Neoptolemos: Mein Vater ist todt,
Ulysses; sprich nicht mehr davon; er
ist für Griechenland gestorben! Ach,
und dafür kämpfen, leiden, sterben —
verlange, was du willst, verlange nur
nicht, dass ich einen Freund meines
Vaters verrathe.

Ulysses: Kind, höre mich und
antworte; bist du nicht zuerst der Freund
aller Griechen und dann erst Freund
eines einzelnen? Oder vielmehr, ist das
Vaterland nicht mehr als ein einzelner?
Und würdest du es über dich bringen,
einen einzigen Menschen zu retten,
wenn darüber Griechenland verloren
gienge?

Neoptolemos: Ulysses, du hast
recht, ich würde es nicht leiden.

Ulysses: Du gibst doch zu, dass,
wenn die Freundschaft ein kostbares
Ding ist, das Vaterland ein noch viel
kostbareres ist? Sage mir, Neoptolemos,
worin besteht die Tugend?

Neoptolemos: Lehre es mich,
weiser Sohn des Laërtes!

Ulysses: Zähme deine Leidenschaft,
ergib dich der Pflicht

Neoptolemos: Aber was ist die
Pflicht, Ulysses?

Ulysses: Die Stimme der Götter,
das Gebot der Stadt, unsere Hingabe
an Griechenland und, wie man Liebende
die köstlichsten Blumen der Erde suchen
sieht, um sie ihren Geliebten anzubieten
und sie oft wünschen, zu sterben, als
hätten sie, Unglückliche, nichts Besseres,
als sich selbst. Wenn es nun wahr ist,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 52, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-03_n0052.html)