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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 53

Text

GIDE: PHILOKTET ODER DER TRACTAT VON DEN DREI LEBENSANSCHAUUNGEN.

dass dein Vaterland dir lieb ist, was
wüsstest du ihm Besseres anzubieten?
Und gabst du nicht eben jetzt zu,
dass nach ihm gleich die Freund-
schaft komme? Was hatte Agamemnon
Theureres als seine Tochter, wenn
nicht das Vaterland? Wie über einem
Altare opfere Und selbst Philoktet,
was hat er hier auf dieser Insel und
allein, wie er lebt, Kostbareres für das
Vaterland hinzugeben, als diesen Bogen?

Neoptolemos: Aber Ulysses, in
diesem Falle bitte ihn doch!

Ulysses: Er könnte es verweigern.
Ich kenne nicht seine Laune, aber ich
weiß, dass seine Thatenlosigkeit ihn
gegen die Heerführer aufgeregt hat.
Vielleicht reizt er die Götter mit seinen
Gedanken und unterlässt es frevelhaft,
uns den Sieg zu wünschen. Vielleicht
wollten ihn die beleidigten Götter durch
uns züchtigen, und indem wir ihm den
Muth, uns seine Waffen zu überlassen,
aufzwingen, werden die Götter ihm
milder sein.

Neoptolemos: Aber Ulysses, können
Handlungen, die wir gegen unser Wollen
thun, verdienstvoll sein?

Ulysses: Neoptolemos, glaubst du
nicht, dass es vor allem wichtig ist, die
Gebote der Götter zu erfüllen? Und
könnten sie erfüllt werden ohne Zu-
stimmung auch eines jeden einzelnen
Menschen?

Neoptolemos: Alles, was du vorher
gesagt hast, billige ich, aber das jetzt,
da weiß ich nichts zu sagen, ja es
scheint

Ulysses: Still! Horch! Hörst
du nichts?

Neoptolemos: Ja, das Rauschen
des Meeres.

Ulysses: Nein. Das ist er. Sein
schreckliches Schreien dringt bis zu uns.

Neoptolemos: Schreckliches
Schreien? Ulysses, ich höre im Gegen-
theil Gesänge.

Ulysses (das Ohr hinhaltend): Es ist
wahr, er singt. Es scheint ihm ganz
gut zu gehen! Jetzt, wo er allein ist,
singt er. Als er um uns war, schrie er.

Neoptolemos: Was singt er?

Ulysses: Man kann die Worte noch
nicht unterscheiden. Horch! er nähert
sich.

Neoptolemos: Er hört auf, zu
singen. Jetzt hält er still. Er hat unsere
Spuren am Schnee gesehen.

Ulysses (lachend): Und wieder fängt
er an, zu schreien. Ach, Philoktet!

Neoptolemos: Wirklich! Das sind
schreckliche Schreie.

Ulysses: Geh’ und trag’ mein
Schwert auf den Felsen, damit er die
griechische Waffe wieder erkenne und
so wisse, dass die Schritte, die er sieht,
von einem Griechen seien. — Beeile
dich! Dorthin nähert er sich. — Gut
so! — Komm’ jetzt her; wir werden
uns hinter diesen Schneehügel stellen;
so können wir ihn sehen, ohne dass er
uns bemerkt. Wie wird er nur fluchen!
»Ich Unglücklicher!« wird er sagen,
»und giengen doch alle Griechen zu-
grunde, die mich hier zurückgelassen
haben. Ihr Heerführer, ihr und du,
Ulysses, du Schurke, und ihr, Aga-
memnon und Menelaus! Möchte sie
doch alle meine Krankheit verschlingen.
O Tod, Tod, dich rufe ich jeden Tag,
und wirst du noch immer auf meine
Klagen stumm bleiben? Wirst du niemals
kommen? Grotte, Felsen und Vorgebirge,
ihr stummen Zeugen meiner Schmerzen,
werdet ihr niemals «

(Philoktet tritt auf die Scene; er erblickt
den Helm und die Waffen.)

2. Scene.

Philoktet, Ulysses, Neoptolemos.

(Philoktet schweigt.)

II. Act. 1. Scene.

Ulysses, Philoktet, Neoptolemos.

(Alle drei sitzen.)

Philoktet: Und wirklich, Ulysses,
erst seitdem ich allein bin, verstehe ich
das, was man Tugend heißt. Solange
der Mensch mit den anderen lebt, ist

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 53, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-03_n0053.html)