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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 54

Text

GIDE: PHILOKTET ODER DER TRACTAT VON DEN DREI LEBENSANSCHAUUNGEN.

er unfähig, glaube es mir, unfähig einer
reinen und wahrhaft selbstlosen Hand-
lung. Auch ihr kamt hierher
warum doch?

Ulysses: Um dich zu sehen doch,
Philoktet!

Philoktet: Nun, das glaube ich
nicht, es ist auch gleichgiltig; das Ver-
gnügen, euch zu sehen, ist mir lieb und
das genügt! Ich habe die Gabe ver-
loren, die Beweggründe der Handlungen
zu suchen, seitdem die meinen keine
Hintergründe mehr haben. Das, was
ich bin, für wen sollte ich das scheinen?
Ich will nur sein, darum allein ist es
mir zu thun. Ich klage nicht mehr,
seitdem ich weiß, dass kein Ohr mich
vernimmt, ich wünsche nichts mehr,
seitdem ich weiß, dass ich nichts mehr
erreichen kann.

Ulysses: Warum hast du früher
nicht aufgehört, zu klagen, Philoktet?
Wir hätten dich bei uns behalten.

Philoktet: Gerade das war es,
was ich nicht durfte. In der Nähe der
Anderen wäre mein Schweigen eine
Lüge gewesen.

Ulysses: Und jetzt?

Philoktet: Mein Leiden bedarf
nicht mehr der Worte, um sich zu
verstehen, da ich allein es nur kenne.

Ulysses: Also seit unserer Abfahrt
hast du immer geschwiegen, Philoktet?

Philoktet: O nein! Aber seitdem
ich meiner Klagen mich nicht mehr
bediene, um meine Leiden auszu-
drücken, sind sie schön geworden und
so, dass ich in ihnen Trost finde.

Ulysses: Umso besser, armer
Philoktet!

Philoktet: Beklage mich nur nicht!
Ich wünsche nichts mehr, sagte ich
dir, seitdem ich weiß, dass ich nichts
mehr erreiche. Von außen erreiche ich
nichts mehr, das ist wahr, aber viel
von mir selbst! Und gerade von dieser
Zeit an wünsche ich die Tugend; meine
Seele ist ganz dem ergeben und ich
ruhe trotz meiner Schmerzen in der
Stille; — ich ruhte in ihr wenigstens,
als ihr kamt Du lächelst?

Ulysses: Ich sehe, dass du dich
zu beschäftigen wusstest!

Philoktet: Du hörst mich, ohne
mich zu verstehen. — Schätzest du
nicht die Tugend?

Ulysses: O ja, meine!

Philoktet: Welche ist es?

Ulysses: Du würdest mich hören,
ohne mich zu verstehen Sprechen
wir lieber von den Griechen! Hat dich
deine einsame Tugend bestimmt, dich
nicht mehr ihrer zu erinnern?

Philoktet: Sie hat mich bestimmt,
mich nicht mehr gegen sie zu erregen,
das sicherlich!

Ulysses: Höre zu, Neoptolemos! —
Also auch der Erfolg des Kampfes,
dessentwegen

Philoktet: Ihr mich zurück-
gelassen habt Was willst du, dass
ich davon denke, Ulysses? Dass ihr
mich hier zurückgelassen habt, das
thatet ihr doch nur, um zu siegen,
nicht wahr? Ich hoffe also, dass ihr
die Sieger seid!

Ulysses: Und wenn nicht?

Philoktet: Dann hätten wir Grie-
chenland eben für zu groß gehalten.
Ich hier auf dieser Insel, ich wurde
hier, verstehe mich, von Tag zu Tag
weniger Grieche, von Tag zu Tag
mehr Mensch Und doch, wenn ich
euch sehe, da fühle ich Achilles
ist todt, Ulysses?

Ulysses: Achilles ist todt; und
dieser, der mich begleitet, ist sein Sohn.
Wie, du weinst, Philoktet? Die Ruhe,
die du so suchtest

Philoktet: Achilles! Kind!
Lass meine Hand deine schöne Stirne
berühren. Wie lange ist es nicht her,
wie lange, dass meine Hand nicht nur
kalte Körper berührte! Selbst die Körper
der Vögel, die ich schieße, sind eisig,
wenn sie auf die Wogen oder auf den
Schnee fallen, eisig wie jene höheren
Luftregionen, die sie durchfliegen.

Ulysses: Du drückst dich schön
aus für einen, der leidet.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 54, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-03_n0054.html)