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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 57

Text

GIDE: PHILOKTET ODER DER TRACTAT VON DEN DREI LEBENSANSCHAUUNGEN.

Neoptolemos: Du hast mich ver-
wirrt! Gib mir meine Ruhe zurück,
Philoktet! Alles, was du mir sagtest,
hat in meinem Herzen gekeimt! Während
du sprachst, wusste ich nichts zu ant-
worten. Ich hörte nur; mein Herz war
ganz offen deinen Worten, wie das
eines Kindes. Und jetzt, wo du schweigst,
höre icn noch immer. Alles verwirrt
sich in mir, und ich warte. Sprich, ich
habe nicht genug gehört Man muss
sich hingeben, sagtest du ?

Philoktet: Sich hingeben, ja!

Neoptolemos: Aber auch Ulysses
sagt es mir! Aber wem muss man sich
hingeben? Er sagt, dem Vaterland

Philoktet: Ja, dem Vaterland!

Neoptolemos: O sprich doch,
Philoktet! Du musst vollenden, jetzt
gleich!

Philoktet (mit Verstellung): Kind —
kannst du mit dem Bogen schießen?

Neoptolemos: Ja! Warum?

Philoktet: Kannst du diesen hier
spannen?

Neoptolemos (verwirrt): Du willst
Ich kann nicht! (Er versucht.) Ja; viel-
leicht! — So!

Philoktet (beiseite): Wie leicht! Es
scheint

Neoptolemos (unsicher): Und
jetzt ?

Philoktet: Ich habe gesehen, was
ich sehen wollte! (Er nimmt wieder den
Bogen.)

Neoptolemos: Ich verstehe dich
nicht!

Philoktet: Ist auch ganz gleich-
giltig! Ach! (Er besinnt sich.) Höre, Kind!
Glaubst du nicht, dass es Götter gibt,
die über Griechenland stehen, und dass
die Götter wichtiger sind, als dieses?

Neoptolemos: Nein, beim Zeus!
das glaube ich nicht!

Philoktet: Und warum nicht,
Neoptolemos?

Neoptolemos: Denn die Götter,
denen ich diene, sie dienen wiederum
Griechenland.

Philoktet: Wie das? Sind sie ihm
untergeben?

Neoptolemos: Nein, nicht unter-
geben ich weiß nicht, wie ich’s
sagen soll; du weißt, dass man sie
außerhalb Griechenlands nicht kennt;
Griechenland ist ebenso ihre Heimat,
wie unsere; indem ich ihm diene, diene
ich ihnen; sie sind in nichts von ihm
unterschieden.

Philoktet: Und doch, sieh’, ich
darf dir es ja sagen, ich gehöre nicht
zu Griechenland und doch diene
ich ihnen.

Neoptolemos: Glaubst du? —
Ach, armer Philoktet, man entgeht
nicht so leicht Griechenland und
selbst

Philoktet (aufmerksam): Und selbst?

Neoptolemos: Ach, wenn du
wüsstest, Philoktet!

Philoktet: Wenn ich was
wüsste?

Neoptolemos (sich wieder fassend):
Nein, sprich du! Ich bin gekommen,
dich zu hören; du fragst Auch ich
fühle ja, dass Ulysses und du dass
euere Tugend nicht dieselbe ist
Aber, wenn du sprechen sollst, zauderst
du du, der du so gut zu reden
weißt! Wem soll man sich hingeben,
Philoktet?

Philoktet: Ich sagte dir es ja, den
Göttern Aber über den Göttern,
Neoptolemos, gibt es etwas!

Neoptolemos: Über den Göttern?

Philoktet: Ja, da ich doch nicht

so handle, wie Ulysses!

Neoptolemos: Noch einmal, Phi-
loktet! Wem soll man sich hingeben?
Was ist noch über den Göttern?

Philoktet: Über den Göttern
(Er nimmt den Kopf in die Hände, wie über-
wältigt.) Ich weiß nicht mehr. Ich weiß
nichts mehr Ach, ach! Wir selbst!
Ich weiß nichts mehr, Neoptolemos!

Neoptolemos: Wem soll man
sich hingeben? Sag’ doch, Philoktet?

Philoktet: Sich hingeben Sich
hingeben

Neoptolemos: Du weinst!

Philoktet: Wenn ich dir die
Tugend weisen könnte (Er erhebt

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 57, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-03_n0057.html)