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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 58

Text

GIDE: PHILOKTET ODER DER TRACTAT VON DEN DREI LEBENSANSCHAUUNGEN.

sich plötzlich.) Ich höre Ulysses! Leb’
wohl! (Er trennt sich und sagt im Weggehen):
Werde ich dich wiedersehen?

Neoptolemos: Leb’ wohl! (Ulysses
tritt auf.)

3. Scene.

Ulysses und Neoptolemos.

Ulysses: Komme ich zurecht?
Was hat er gesagt? Hast du gut ge-
sprochen, mein Schüler?

Neoptolemos: Dank dir besser
als er. Doch wozu? Ulysses, er
hat mir seinen Bogen zu spannen
gegeben.

Ulysses: Seinen Bogen? Du
spassest wohl! Und hast du ihn
nun bei dir behalten, Sohn des Achilles?

Neoptolemos: Was ist ein Bogen
ohne Pfeile? Während ich den Bogen
hatte, hielt er klug die Pfeile zurück.

Ulysses: Der kluge Freund!
Argwöhnt er etwas, glaubst du? Was
sagte er?

Neoptolemos: O, nichts, oder bei-
nahe soviel.

Ulysses: Und hat er dir wiederum
von seiner Tugend declamiert?

Neoptolemos: Er, der vorhin so
gut sprach, als ich ihn fragte, schwieg
er

Ulysses: Da siehst du es nun.

Neoptolemos: Und als ich ihn
fragte, wem anders als Griechenland
man sich hingeben solle, sagte er

Ulysses: Was?

Neoptolemos: Dass er es nicht
wisse. Und als ich sagte, dass selbst
die Götter, wie du es mich lehrtest,
Griechenland untergeben sind, da ant-
wortete er: Es gibt noch etwas über
den Göttern.

Ulysses: Was?

Neoptolemos: Er sagte, er wisse
es nicht.

Ulysses: Da hast du es, Neopto-
lemos!

Neoptolemos: Nein, Ulysses, mir
scheint, als verstünde ich ihn jetzt.

Ulysses: Was verstündest du jetzt?

Neoptolemos: Irgendetwas; denn
hier auf dieser einsamen Insel, wem
gab sich denn Philoktet hin?

Ulysses: Aber du hast es ja
gesagt, niemandem! Wozu dient eine
einsame Tugend? Was er auch immer
geglaubt haben mag, er gab sich aus,
er athmete sich nutzlos aus! Wozu
dienen alle seine Sätze, so schön
er sie auch sagen mag? Hat er
dich überzeugt? — Auch mich nicht!
Wenn er also allein auf dieser Insel
lebte, so war es nur — ich habe es
dir schon bewiesen —, um das Heer
von seinem Gestöhne und dem Gestanke
seiner Wunde zu befreien; hier liegt
seine Hingabe, hier seine Tugend, er
mag sagen, was er will. Seine zweite
Tugend wird darin bestehen — wenn
er überhaupt Tugend genug besitzt,
sich über den Verlust des Bogens zu
trösten —, dass er daran denke, dass
es für Griechenland geschah. Von
welcher anderen Hingabe träumt er,
wenn nicht von der Hingabe ans
Vaterland? Er erwartet, siehst du,
dass wir gekommen wären, um sie ihm
anzubieten Aber da er sie doch
abweisen könnte, so ist es besser, ihn
zu seiner Tugend zu zwingen, ihm das
Opfer aufzuzwingen und vor allem
klüger ist es, ihn einzuschläfern. Hier
habe ich ein Fläschchen

Neoptolemos: Sprich nicht zu
viel, Ulysses Philoktet hat ge-
schwiegen.

Ulysses: Weil er nichts zu sagen
hatte.

Neoptolemos: Und darum, meinst
du, weinte er?

Ulysses: Er weinte, weil er sich
geirrt hatte.

Neoptolemos: Nein, meinetwegen
weinte er.

Ulysses (lächelnd): Deinetwegen!
Das, was man aus Dummheit beginnt,
aus Hochmuth, nennt man es Tugend?

Neoptolemos (aufschluchzend):
Ulysses, du verstehst Philoktet nicht!

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 58, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-03_n0058.html)