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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 59

Text

GIDE: PHILOKTET ODER DER TRACTAT VON DEN DREI LEBENSANSCHAUUNGEN.
IV. Act. 1. Scene.

Philoktet und Neoptolemos.

(Philoktet ist allein, ersitzt; erscheint vom
Schmerz übermannt — oder denkt.)

Neoptolemos (tritt laufend ein):
Dass ich ihn nur noch zur rechten
Zeit treffe! — Ah, du, Philoktet! Nur
schnell, höre mich! Das, was wir eben
gethan haben, ist unwürdig; aber sei
größer als wir: verzeihe mir. Wir
kamen o, ich schäme mich, es dir
zu sagen — wir kamen, dir den Bogen
zu stehlen, Philoktet!

Philoktet: Ich wusste es.

Neoptolemos: Du verstehst mich
nicht Um dir den Bogen zu stehlen,
kamen wir, sage ich! — Vertheidige
dich doch!

Philoktet: Gegen wen? Gegen
dich, Neoptolemos?

Neoptolemos: Nein, wahrlich nicht
gegen mich, ich liebe dich und darum
sagte ich es.

Philoktet: Und du verräthst
Ulysses

Neoptolemos: O, ich bin in Ver-
zweiflung Dir gab ich mich hin!
Liebst du mich? Sprich, Philoktet? Ist
das die Tugend?

Philoktet: Kind!

Neoptolemos: Sieh’ her, das
bringe ich dir mit! Diese Phiole soll
dich einschläfern! Aber ich, sieh’, ich
gebe sie dir! Hier! Ist das die Tugend?
Sprich!

Philoktet: Schritt für Schritt nur,
Kind, gelangt man zur Tugend; das,
was du jetzt thust, ist nur ein Sprung!

Neoptolemos: So unterweise mich
doch, Philoktet!

Philoktet: Diese Phiole soll mich
einschläfern, sagst du? (Er nimmt sie und
betrachtet sie.) Kleine Phiole du wenig-
stens wirst dein Ziel nicht verfehlen.
Siehst du, was ich thue, Neoptolemos?
(Er trinkt.)

Neoptolemos: Unglücklicher, das
ist

Philoktet: Ich gebe mich hin!
Sag’ es Ulysses! Du magst ihm sagen
dass er komme. (Erschrocken eilt Neopto-
lemos
davon und schreit auf.)

2. Scene.

Philoktet, dann Ulysses und Neopto-
lemos
.

Philoktet (allein): Und du wirst
mich bewundern, Ulysses; ich will dich
zwingen, mich zu bewundern. Meine
Tugend wird die deine übertreffen, und
du wirst dich kleiner fühlen. Berausche
dich, Tugend des Philoktet! Sättige
dich an deiner Schönheit! Neoptolemos,
warum nimmst du nicht gleich deinen
Bogen? Je mehr du mich liebtest, umso
schwerer war es dir; du hast dich nicht
genug hingegeben. Nimm hin! (Er blickt
um sich.) Er ist nicht mehr da

Dieser Trank hatte einen schreck-
lichen Geschmack. Wenn ich nur daran
denke, steigt mir das Herz. Ich möchte
früher einschlafen

Von den vielen Arten von Hingabe
die thörichtste ist die Hingabe an andere,
denn dann ist man ihnen überlegen.
Ich gebe mich hin, ja, aber nicht meiner
Heimat. Ich bereue nur, dass meine
Hingabe Griechenland diene. Nein,
nicht einmal das bereue ich Aber
dann wenigstens wisse mir keinen
Dank, denn nur für mich handle ich
und nicht für dich! — Ulysses, du
wirst mich bewundern, nicht wahr?
— Ulysses, Ulysses, wo bist du? Ver-
stehe mich: Ich gebe mich hin, aber
nicht dem Vaterland einem anderen,
verstehst du! Für wen thue ich es nun?
Ich weiß nicht! Wirst du verstehen?
Ulysses, vielleicht wirst du glauben,
dass ich mich Griechenland hingebe.
Ach! dieser Bogen und diese Pfeile
werden ihm doch dienen! Wohin soll
ich sie nur werfen? — Ins Meer, ins
Meer! (Er will laufen, aber fällt zurück, von
der Wirkung des Trankes überwältigt.) Ich
bin ohne Kraft! Ach! Mein Kopf wird
verwirrt Er wird kommen

Tugend! Tugend! in deinem bitteren
Namen suche ich ein wenig vom großen
Rausch; hätte ich ihn schon erschöpft?

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 59, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-03_n0059.html)