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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 60

Text

KASSNER: ANDRÉ GIDE.

Der Stolz, der mich hält, er wankt und
gibt nach; alles in mir ergreift schon
die Flucht. »Keine Sprünge, keine
Sprünge!« sagte ich. Was man über
seine Kräfte thut, Neoptolemos, nur
das ist Tugend. Tugend — ich glaube
nicht mehr daran, Neoptolemos! So
höre mich doch, Neoptolemos! Neopto-
lemos, es gibt keine Tugend! Neopto-
lemos! Er hört nicht mehr (Er fällt
zurück und schläft ein.)

Ulysses (tritt ein und sieht Philoktet):
Und jetzt lass’ mich allein mit ihm!
(Neoptolemos, im Sturme heftigster Gefühle,
zögert noch, wegzugehen.) Gehe, wohin du
willst! Eile und mache das Boot bereit,
wenn du willst! (Neoptolemos geht
davon.)

Ulysses (allein; er naht sich Philoktet
und beugt sich über ihn): Philoktet!
Du hörst mich nicht mehr, Philoktet?
Du hörst mich nicht? Was soll
ich thun? Ich habe dir sagen wollen
dass du mich besiegt hast, Philoktet!
Und jetzt sehe ich die Tugend, jetzt;
ich fühle sie so schön, dass neben dir
ich nicht mehr zu handeln wage. Meine
Pflicht erscheint mir grausamer als die
deine, weil sie mir weniger erhaben
dünkt. Dein Bogen — ich kann, ich
will ihn nicht mehr nehmen; du hast
ihn gegeben. — Neoptolemos ist ein
Kind; er soll gehorchen. Hier ist er!
(Befehlend:) Und jetzt, Neoptolemos,
nimm den Bogen und die Pfeile und
trage sie zum Boot! (Neoptolemos nähert

sich voll Schmerz Philoktet, neigt sich über
ihn, wirft sich dann auf die Knie und küsst
ihn auf die Stirne.)

Ulysses: Ich befehle es dir! Genügt
es dir nicht, mich verrathen zu haben?
Willst du auch dein Vaterland ver-
rathen? Sieh’, wie er sich hingab!
(Neoptolemos nimmt demüthig Bogen und
Pfeile und entfernt sich.)

Ulysses (allein): Und jetzt, lebe
wohl, harter Philoktet! Hast du mich
sehr verachtet? Ich möchte wissen
Ich möchte, dass er wisse, wie ich ihn
bewundere und dass um seinet-
willen wir siegen werden.

Neoptolemos (ruft aus der Ferne):
Ulysses!

Ulysses (entfernt sich): Hier!

V. Act.

(Philoktet ist allein auf einem Felsen. Die
Sonne geht an einem vollkommen blauen
Himmel auf. Fern im Meere flieht ein Boot.
Philoktet sieht ihm lange nach.)

Philoktet (spricht ganz leise und lang-
sam): Sie werden nicht wiederkommen,
sie haben mir keinen Bogen mehr zu
nehmen Wie bin ich glücklich!

(Seine Stimme ist außerordentlich schön
und sanft geworden; Blumen dringen um ihn
herum aus dem Schnee, und vom Himmel
herab kommen die Vögel, ihn zu nähren.)

Schluss.

ANDRÉ GIDE.
Von RUDOLF KASSNER (Wien).

Wer ist André Gide? Da er einem
weiteren deutschen Leserkreise ebenso-
wenig bekannt sein dürfte, wie einem
weiteren französischen, so müsste ich ihn
eigentlich erst literarisch vorstellen. Ich
müsste sagen, wie alt er heute ist, was
er geistig erlebt, was er uns zu sagen
hat und ob wir noch viel von ihm zu

erwarten haben, welche Stellung er in
der Literatur des jungen Frankreich ein-
nimmt. Doch das ist heute alles noch
nicht wesentlich und würde der Lecture
seiner Bücher wenig helfen. Eines genügt:
André Gide hat sich entwickelt. Das ist
wichtig und selten unter den jungen
Dichtern Frankreichs. Gide hat sich ent-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 60, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-03_n0060.html)