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wickelt. Es ist viel Deutsches in Gide,
und Gide ist Protestant. Vielleicht ist das
letztere nicht unwesentlich.
Mit neunzehn Jahren schrieb er sein
erstes Buch: »Les cahiers d’André Walter«.
Das sprach von vielem Großen, eigentlich
mehr von der Größe, enthielt Weises und
Schönes, war aber mehr allgemein, als
genial. Später fühlte er, dass es doch
mehr Literatur sei, und Gide schrieb die
Paludes, eine Satire! Auf wen? Auf sich?
Auf alle literarischen Frühgeburten der
Großstadt? Paludes ist ein sehr feines,
wenn auch oft aus Überdeutlichkeit un-
deutliches Buch, nicht gegen Die, welche
alles in den Sumpf ziehen, sondern gegen
Die, welche alles wieder in ihren Sumpf
zurückwirft, gegen alle Diejenigen, die
sich nicht befreien können, gegen Die,
welche Nervosität für Inspiration nehmen,
gegen alles, das nicht wurzelt und das
unrein im Geiste ist, gegen die Schwachen,
denn Paludes ist beinahe die Satire auf
eine Idee, auf die Schuldigen einer Idee;
Paludes würde ein tiefes Buch sein, wenn
es nicht so dunkel wäre. Mit ihnen be-
gründet aber Gide sein drittes Buch, die
Nourritures terrestes, ein Buch der Reini-
gung und der Erkenntnis. »Je tombai ma-
lade, je voyagrai, je rencontrai Ménalque,
et ma convalescence délicieuse me fut
comme une palingénésie. Je renaquis avec
un être neuf, sous un ciel neuf et au
milieu de choses complètement renouvelés.«
Gide erkennt hier, dass er bisher dem
Leben ausgewichen war, dass er weise
gewesen war, bevor er geliebt hatte. Und
wie eine Rechtfertigung seiner Befreiung
mag man dann seine beiden Dramen
lesen: »Philoktète« und »Le roi Candaule«,
zwei Bücher, die, wenn man will, vom
Recht auf das Glück handeln, oder von den
vielen Wegen, wie man zur Tugend gelangt.
Das ist in schneller Linie der Lauf
seiner Entwicklung. Welches ist nun der
Grund seiner Entwicklung? Ihre Idee?
Warum ist der Dichter der Cahiers d’André
Walter und des Philoktète doch schließlich
derselbe, im Grunde und in der Idee der-
selbe? Sind seine Gründe seine Ideen?
Ich will mich kurz fassen; André Gide
ist Dichter und Philosoph zugleich, Dichter
und Philosoph, nicht wie die großen
Schöpfer des Gedankens und Bildes ganz
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einfach aus Naturkraft und nicht wie die
kleinen Poeten und überflüssigen Grübler,
die mit fremden Bildern ihre grundlosen
Gedanken stützen oder mit Gedanken
mühsam und künstlich ihre blinden Bilder
erhellen. André Gide ist Dichter und
Philosoph, weil er zugleich sehr natürlich
und sehr künstlich, hingebend und gezeich-
net, und, wenn man mich recht versteht,
groß und klein ist. Und darum ist dieser
Zwitter in ihm in gleichem Maße schöpfe-
risch und fatal. Gide erklärt sich niemals
als Dichter, ohne den Philosophen zu
verbergen, und umgekehrt verschweigt die
Entschiedenheit eines Gedankens oft nur
zu laut ein Bild, an dem er gelitten hat.
Seine Bilder sind oft schwermüthig und
seine Gedanken unruhig. Auch er ist ein
Träumer vom Unmöglichen und vergisst
oft, dass alles Unmögliche nur die That,
die geschehen, und das Werk, das sich
schuf, ist. Auch er träumt von Bildern,
die verweilen, und Gedanken, die man
erstarkend genießt wie die Liebe. Sein
Werk könnte man bezeichnen als eine
Philosophie des Genusses und eine Poesie
der inneren Bildung. In ihm liegt eine
ganze Cultur des Dichters und, wenn man
will, eine Anleitung zur Naivetät des
Weisen. Gide möchte in einer Landschaft
leben und Gedanken reimen. Er möchte
die Natürlichkeit darstellen wie ein System,
und berauscht singen von allem, was
compliciert in uns und vergangen ist. Er ist
vielleicht der gewissenhafteste aller Menschen
und mag doch über nichts so sehr nachdenken,
als wie man seiner Gewissenlosigkeit Stil
geben könnte; ich kenne niemanden, der
so »durchreflectiert« wäre, um ein Wort
Kierkegaards zu gebrauchen, und doch,
wenn er von der Unschuld spricht, so
trägt sich diese beinahe an. Gides Seele
ist sehr verschmitzt und sehr kindlich, und
darum staunt sie, und ihr Muth kennt
alles Müde. Sie staunt, warum es denn
so schwer, so beinahe unmöglich sei, zu
denken und unschuldig zu bleiben, rein
zu bleiben und alles Leben bis auf seine
Bitternis zu genießen. »Mais fu compren-
dras que c’est qu’ avec beaucoup de joie,
qu’un peu de droit à la pensée s’achète.
L’homme qui se dit heureux et qui pense,
celui là sera appelé vraiment fort.« Gide
staunt über seine Spiegel, und das ist seine
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