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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 62

Text

KASSNER: ANDRÉ GIDE.

Wollust, und dass er darüber nicht un-
fruchtbar geblieben ist, das scheint beinahe
ein Wunder. Im Anhange gleichsam des
Ganzen sage ich noch schnell, Gide ge-
hört zu Denen, die Mozart lieben, weil
sie an Wagner leiden, und für niemanden
dürfte das Werk Nietzsches in gleichem
Maße eine Erfüllung bedeuten. Gide ist
einer der besten Leser Nietzsches.

Bei Gide ist alles Stil. Seinem Körper
Stil geben, hieße für ihn, die Seele finden,
und künstlich sein hieße dann, seine Natur
bewahren. Gide ist ein Stauner und darum
wenig unerschrocken oder besser gesagt
nur langsam unerschrocken. Unter den
jungen Dichtern Frankreichs schreibt nie-
mand eine schönere Prosa. Gides Prosa
ist nicht nur ein Besser-Schreiben als die
anderen, eine Fertigkeit, sondern eine
Kunst, vielleicht aber auch deshalb, weil
seine Verse so unverbindlich sind. Gide
gehört zu den Menschen, die rückwärts
gedeckt sein müssen, um im Blicke Muth
zu haben, sonst bliebe er ängstlich, un-
logisch und nervös, mehr flatterhaft als
fliegend. Indem wir Prosa schreiben, decken
wir uns besser, der Vers ist muthiger,
unerschrockener — das Staunen ist in ihm
ganz Unerschrockenheit geworden —
freier, directer, trotzdem oder besser weil
wir bei ihm von ungebundener Rede
sprechen. Das klingt paradox, aber ich
rede von der esoterischen Wahrheit des
Verses und die esoterische Wahrheit eines
Dinges ist immer die Paradoxie seiner
exoterischen Wahrheit — auf dieser Erde,
wie ein Theosoph sagen würde. Ich will
mich da eines Vergleiches bedienen: Von
zwei Menschen, von denen der eine sich
eine Brücke baut, um über den Fluss zu
kommen, und der andere ihn einfach durch-
schwimmt, gleicht dem ersten der Dichter,
der in Prosa, und dem zweiten der Dichter,
der in Versen schreibt. Auch das ist
esoterisch und paradox, da ganz ober-
flächlich der Vers ein Umweg oder zum
mindesten ein Weg über die Dinge, im
schönen Bogen gleichsam, erscheint. Ge-
rade Gide ist mir ein gutes Beispiel für
diese Wesenheit des Verses und der Prosa,
über die ich schon an anderer Stelle und
in anderen Bildern sprach. Gide hat oft
versucht, in Verse zu bringen, was er in
Prosa gesagt hat, und ich glaube, er mag

recht oft den Schwimmer beneiden, der
sich nackt in den Fluss wirft, während
er an seinen Brücken baut. Um in das
Ganze mehr Klarheit zu bringen: Gide
ist Phantasiemensch, und Dem, der in der
Einbildungskraft lebt, ist der Vers das
natürlichste, naivste und nächste Mittel,
zum Leben, zur Vollendung, also zum
anderen Ufer zu kommen. Menschen nämlich,
die in der Einbildungskraft leben, sind
auch Diejenigen, denen das Leben immer
am anderen Ufer liegt. In diesem Sinne
ist der Vers eigentlich die ungebundene
Sprache und die Prosa die gebundene.
Das Beste am Vers ist seine Natur und
das Beste an der Prosa ihre Cultur. Ich
sage das Beste und meine das Wesent-
liche. Doch auch das wird Dem paradox
erscheinen, der nur Metriker ist.

Und noch ein Wesensunterschied
besteht zwischen Prosa und Vers, und
auch diesen bestätigt mir Gide. Auch er
ist esoterisch und kann sich, wie alles
Esoterische, nur in Bildern ausdrücken. Die
Prosa ist Spannung und der Vers Voll-
endung, oft De-Illusion. Und alles, was
Gide darstellt, ist Spannung, und von
seinen Menschen kann man nichts Wesent-
licheres sagen, als dass sie gespannt
seien, gespannt auf irgendetwas, den
Genuss, den Gedanken, die Vollendung,
das Ende des Dramas, auch auf ihr Ende,
das Schweigen. Gides Menschen sprechen
deshalb so schön in Prosa, weil sie in
Versen nicht zu schweigen vermögen.
Die Vollendung kann Gide nicht dar-
stellen, das ist Gewissenssache. Mit der
Vollendung hört für ihn die Dichtung,
das Dichten auf, et incipit vita. Gide
nimmt seinen Menschen die beiden Masken,
die der Tragödie und Komödie, ab und
legt sie sich selbst an und ist bald
traurig, bald kokett und denkt weiter
nach über die Vollkommenheit und Offen-
heit und wie alles sich vollendet und
uns verlässt und was man gethan haben
muss, um sein Glück eine Tugend zu
nennen und ob man nicht manchmal
zuviel Tugend hat, um Glück zu haben
und warum man sich darüber ärgert und
warum man ein so guter Psychologe
ist, wenn man viel zu verschweigen hat
und O, wunderbar ist, was Gide alles
verschweigt und es lohnt eine ganz neue

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 62, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-03_n0062.html)