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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 63

Text

KUHLENBECK: DIE INDIVIDUALITÄT IST IHR EIGENES GESCHÖPF.

Psychologie! Wunderbar ist die Art, wie
Gide in seinen Büchern und außerhalb
seiner Bücher ist, wunderbar ist, wie alles
Künstliche bei ihm natürlich ist und um-
gekehrt. Man versteht doch, dass ich
nicht sagen will, wie bei ihm die Kunst
Natur wird. Wie alles Lebendige Pose
ist und alle Pose lebt. Man findet das
nur gleich vollkommen auf den Bildern
Burne-Jones’. Was die Menschen in seinen
Dramen z. B. sagen, ist oft oberflächlich
und selten neu, aber wie sie es sagen
und wie sie einander zuhören im Dialoge,

das ist ganz einzig. Als hätten sie das
Gefühl, in einem Drama zu spielen, als
eilten ihre Wesen, ihre Gründe unter
den Worten wie durch Posen dem Ende,
der Vollendung zu. Um mich zu variieren:
ihre Worte reden alle vom Leben, aber
das Wesentliche verschweigen sie, und
das spricht von der Dichtung. Ein Drama
Gides ist kein Spiegel des Lebens, sondern
eine Maske der Dichtung, der Phantasie,
und wenn Gide von den Wirklichkeiten
des Lebens spricht, so gibt er eine
esoterische Poetik.

DIE INDIVIDUALITÄT IST IHR EIGENES GESCHÖPF.
Baustein zum Aufbau einer heroischen Weltanschauung.
Von LUDWIG KUHLENBECK (Jena).
IV.

»Ich will, also bin ich!« Dass
wir diesen Satz an Stelle des Cartesiani-
schen: Cogito, ergo sum setzen könnten,
war ein Ergebnis unserer letzten denkeri-
schen Betrachtungen (IV. Jahrg. Nr. 22).
Doch birgt dieser Satz eine Zweideutig-
keit. Cartesius wollte sein Cogito, ergo sum
in rein erkenntnistheoretischem Sinne ge-
nommen wissen; in diesem Sinne erwies
er sich uns bei genauerer Betrachtung als
wertlose Trivialität; denn selbstverständ-
lich kann ich aus jedem Bewusstseins-
zustande, also auch aus dem des Denkens,
auf mein Dasein schließen, auf mein
Sein aber nur soweit, als es mit dieser
Form des Daseins zusammenfällt. Wollten
wir nun unser Volo, ergo sum ebenfalls
nur in diesem analytischen, erkenntnis-
theoretischen Sinne dem Cogito, ergo sum
zur Seite stellen, so würden wir die
große Reihe trivialer Tautologien nur um
eine weitere vermehren, um eine bloße
Formel, welche der Gelehrtenpöbel an-
staunen mag.

Anders gestaltet sich der Satz, und
zwar wird er zu einem tiefreichenden
metaphysischen Problem, sobald wir das:
»Ich will, also bin ich!« ontologisch nehmen

in dem Sinne, dass unsere Existenz
eine That unseres eigenen freien Willens
wäre. Da wir uns einer solchen Selbst-
schöpfung nicht im mindesten bewusst
sind, wird freilich der sogenannte gesunde
Menschenverstand den Satz in diesem
Sinne auf den ersten Blick sehr anstößig
finden, seine Umkehr: »Ich bin, also will
ich!« wird man eher anhören wollen. Denn-
noch wird auch der »gesunde Menschen-
verstand« ihn insofern nicht absurd finden,
als man ihm wenigstens die abstracte
Möglichkeit nahelegen kann, durch eine
freie Willensthat, nämlich durch Selbst-
mord, jeden Augenblick die Existenz zu
verneinen. In diesem Sinne hat ihn die
praktische Philosophie der Stoa betont,
in deren Geiste zum Beispiel Cassius in
Shakespeares »Julius Cäsar« declamiert:

»Den Cassius kann von Knechtschaft Cassius
lösen,
Darin, ihr Götter, macht ihr Schwache stark,
Darin, ihr Götter, höhnet ihr Tyrannen;
Nicht felsenfeste Burg, noch eh’rne Mauern,
Noch dumpfe Kerker, noch der Ketten Last
Sind Hindernisse für des Geistes Stärke;
Das Leben, dieser Erdenschranken
satt,
Hat stets die Macht, sich selber zu
entlassen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 63, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-03_n0063.html)