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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 64

Text

KUHLENBECK: DIE INDIVIDUALITÄT IST IHR EIGENES GESCHÖPF.

Es ist interessant, hiermit Senecas
76. Brief an Lucilius zu vergleichen, wo
er beweisen will, dass wir alle Übel, die
unser Leben mit sich führt, im Grunde
doch freiwillig ertragen. »Denn nichts
steht Dem im Wege, der durch- und aus-
brechen will. Die Natur bewacht uns
nicht so streng. Wem der Muth zum
Sterben nicht fehlt, dem wird es auch an
dem nöthigen Scharfsinn nicht fehlen.«

Es könnte nun dialectisch die Ver-
suchung naheliegen, diese praktische Er-
wägung als Argumentum a contrario, als
indirecten Beweis für die Freiwilligkeit
unseres Daseins zu benützen. Allein die
Sophistik eines solchen Beweises stößt
sofort auf gewichtige Einwände, und zwar
zunächst auf eine gefühlsmäßig instinctive
Stimme, auf den instinctiven Zweifel, ob
es wirklich möglich ist, auch unser Da-
sein und Bewusstsein schlechthin durch
Zerstörung des Leibes auszulöschen. Diese
instinctive innere Stimme war es, die
Hamlet vom Selbstmord abhielt:

»Sterben! — Schlafen! — Schlafen?
Vielleicht auch träumen! — Ja, da liegt’s:
Was in dem Schlaf für Träume kommen mögen.
Wenn wir den Drang des Ird’schen ab-
geschüttelt,
Das zwingt uns still zu steh’n. Das ist die
Rücksicht,
Die Elend lässt zu hohen Jahren kommen.
Denn w er er trüg’ der Zeiten Spott und
Geißel,
Der Mächt’gen Druck, der Stolzen
Misshandlungen,
Verschmähter Liebe Pein, des Rechtes
Aufschub,
Den Übermuth der Ämter und die
Schmach,
Die Unwert schweigendem Verdienst
erweist,
Wenn er sich selbst in Ruhestand
setzen könnte
Mit einem bloßen Dolch? Wer trüge
Lasten
Und stöhnt’ und schwitzte unter Lebensmüh’?
Nur, dass die Furcht vor etwas nach
dem Tode
Das unentdeckte Land, von dem
Kein Wand’rer wiederkehrt — den Willen
irrt,
Dass wir die Übel, die wir haben, lieber
Ertragen, als zu Unbekanntem flieh’n.«

Neben der materialistisch bevorzugten
Erklärung des sogenannten »Jenseitswahns«
aus bloßer Hoffnungs-Illusion eines zähen
Willens zum Leben fordert für die objec-
tive Betrachtung auch dieser augenschein-

lich mit umgekehrtem Gefühls-Index ver-
sehene Gedanke seine Deutung. Zwar
mag es naheliegen, ihn auf bloß an-
erzogene oder gar ererbte Vorurtheile
zurückzuführen, die in einer Reihe materia-
listisch aufgeklärter Generationen schwin-
den würden.

Schopenhauer, also ein durchaus nicht
im Jenseitswahn befangener, seinem ur-
sprünglichen System nach sogar den
Individualismus perhorrescierender Philo-
soph, konnte sich freilich mit jener Deutung
nicht begnügen. An einer Stelle seines
Hauptwerkes (§ 69) warnt er vor dem
Selbstmorde und in dem Parerga und
Paralipomena (§ 158) schreibt er: »Wie
kann man nur beim Anblick des Todes
eines Menschen vermeinen, hier werde
ein Ding an sich selbst zu nichts?
Dass vielmehr nur eine Erscheinung in
der Zeit, dieser Form aller Erscheinungen,
ihr Ende finde, ohne dass das Ding an
sich selbst dadurch angefochten werde,
ist eine unmittelbare, intuitive
Erkenntnis jedes Menschen.« — »Jeder
fühlt, dass er etwas anderes ist, als ein
von einem anderen einst aus nichts
geschaffenes Wesen.«

Er selbst würde hiernach folgenden
Satz Fichtes, eines Philosophen, den
er sonst ziemlich verächtlich behandelt,
billigen müssen: »Die Urquelle all
meines Denkens und meines
Lebens
, dasjenige, aus dem alles,
was in mir und für mich und durch
mich sein kann
, hervorfließt, der
innerste Geist meines Geistes ist
nicht ein fremder Geist
, sondern
er ist schlechthin durch mich
selbst im eigentlichsten Sinne her-
vorgebracht
. Ich bin durchaus
mein eigenes Geschöpf
«. (Fichte:
Die Bestimmung des Menschen. Reclam-
sche Ausgabe. S. 45.)

Der gemeinsame Boden, auf dem sich
hier Schopenhauer mit Fichte befindet,
ist Monismus. Die Ursache muss der Wir-
kung immanent, also in gewissem Sinne
mit ihr eins sein. Aber sowohl der
Schopenhauer’sche wie der Fichte’sche
Monismus ist ein abstracter Monismus.
Beide setzen als Ursache unseres Daseins
unmittelbar das letzte Welt-
princip
und sie unterscheiden sich nur

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 64, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-03_n0064.html)