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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 66

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KUHLENBECK: DIE INDIVIDUALITÄT IST IHR EIGENES GESCHÖPF.

weise zwischen unserem gegenwärtigen
und früheren Thun, das uns berechtigt,
beides zu einem und demselben Subject zu
rechnen. Das große Ich im Vordersatze
muss also mindestens denselben geistigen
Inhalt haben, wie das kleine Ich des
Nachsatzes. Denn die Ursache muss bereits
alle Eigenschaften besitzen, welche sich
in der Wirkung äußern.

Schopenhauer und Fichte haben eben
kein Recht, das Ich im Vordersatze über-
haupt noch als Ich zu bezeichnen, wenn
es dem kleinen Ich im Nachsatze so
incommensurabel ist, wie die Weltsubstanz
mit dem kleinen empirischen Ich. Sie
könnten nur sagen: »Es will, also bin
ich«, dann aber ist es ziemlich gleich-
giltig, ob wir dieses Es als einen all-
mächtigen Schöpfer oder als Weltsubstanz
denken. Der Zauber des Unvermittelten,
der Sprung bleibt derselbe.

Es ist ein harter, anstößiger Gedanke,
dass ein persönlicher Gott lebendige Per-
sönlichkeiten aus dem Nichts gezaubert
habe, aber dieser Gedanke ist nicht an-
stößiger, vielmehr, da wenigstens ein
Zauberer vorausgesetzt wird, mir immer-
hin noch convenierender, als der crass
materialistische, dass das leblose Nichts
der bloßen Chemikalien sich von selber
zu einer lebendigen Persönlichkeit um-
wandle; — und, offen gestanden, etwas
von diesem Zauber-Element des Nichts
steckt in allen jenen Welt- und Lebens-
erscheinungen, welche die Ursache dyna-
misch, physiologisch und psychologisch
minderwertiger sein lassen, als ihre Wir-
kung. Ein Ich ist aber mehr als ein
blindes, unbewusstes Es, und sei es auch
nur ein ganz kleines Menschen-Ich.

Der Individualismus setzt also ein vor-
geburtliches Ich voraus, das sich in dem
mit der Geburt zeitlich beginnenden Ich
nur theilweise, als in einer eigenen Wir-
kung, oder, wie wir unter Voraussetzung
eines Ich, also einer bewussten Monas,
lieber sagen, That offenbart.

Das Unglaubliche einer solchen Auf-
fassung des irdischen Lebensbeginnes als
einer freien (bewussten) That liegt vor
allem in dem Mangel einer Erinnerung.
Allein wir erinnern uns gar mancher That
nicht immer und zu allen Zeiten, die wir
doch nicht ableugnen können, wenn sie

uns durch andere Indicien bewiesen wird.
Dieses sehr zeitweilige, oft sogar sehr
lang währende Vergessen, diese Amnesie
scheint eine im Kampfe ums Dasein
und zur Weiterbildung nützliche Fähig-
keit zu sein, welche durch gewisse
physiologische Einrichtungen der Natur
des Organismus ermöglicht wird. Wie
weit diese Amnesie gehen kann, beweisen
besonders die abnormen psychologischen
(psychiatrischen) Phänomene des Hypno-
tismus, des Somnambulismus, der alter-
nierenden Persönlichkeit. Daher ist es
nämlich besonders beachtenswert, dass in
der Regel das somnambule Subject über
das Vorstellungsmaterial des »wachen«,
nicht aber umgekehrt letzteres über das-
jenige des »schlafenden, träumenden«
verfügt. Du Prel hat aus solchen und zahl-
losen ähnlichen Thatsachen in seiner
»Philosophie der Mystik« den zwingenden
Beweis einer unsere gewöhnliche (em-
pirische) Persönlichkeit, das jeweilige Ich-
Bewusstsein des Hirnlebens überragenden,
umfassenden Persönlichkeit geführt. Die
Thatsachen, die er in diesem grund-
legenden
Werke seines transcenclentalen
Individualismus verwertet, sind zudem fast
durchwegs so häufig und zugänglich, dass
auch die falsche Prüderie der sich selber
Κ so nennenden »Wissenschaft
vor ihnen nicht zu erröthen braucht. Dass
das Werk gleichwohl auf ihrem Index
steht, ist mir eines der vielen Momente,
durch die ich meine Erkenntnistheorie
bestätigt finde; »man muss sehen wollen,
um zu sehen«.

In geistvoller Weise hat einmal du
Prel die Amnesie an unsere von ihm
vorausgesetzte Prä-Existenz erläutert durch
einen von ihm gedichteten »Mythus«, in
dem er das Diesseits mit einer Insel ver-
gleicht, auf welcher wir mit der Geburt
ausgesetzt sind unter der Suggestion des
zeitweiligen Vergessens des Vorlebens.

Unsere Zeit ist leider in der classischen
Bildung schon so rückständig geworden,
dass man sie daran erinnern muss, wie
ähnliche Mythen im griechischen Alter-
thum das ganze Volk über die Prä-Existenz
der Seele vor der Geburt belehrten und
in den eleusianischen Mysterien z.B.
die Anlehnung zu einer bewussten Meta-
physik der Sittenlehre bildeten, die durch

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 66, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-03_n0066.html)