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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 67

Text

KUHLENBECK: DIE INDIVIDUALITÄT IST IHR EIGENES GESCHÖPF.

ihre vernunftmäßige Überzeugungskraft
den bloßen Autoritätsglauben der christ-
lichen Kirche in den Schatten stellt. Der
Lethestrom, aus dem die Seele Vergessen-
heit trank, war ja nicht, wie höchst ober-
flächliche moderne Deutung vielfach glaubt,
der irdische Tod, sondern die Geburt,
oder richtiger die Zeugung, die Incar-
nation
. Jeden, der sich dafür mehr inter-
essiert, verweise ich auf Platos Mythos
— möglicherweise ist es auch ein wahres
Erlebnis — von dem Pamphylier im
letzten Buche der Republik. (Man findet
ihn in meiner Übersetzung auch bei
Kiesewetter: Occultismus des Alterthums,
II. S. 579—588).

Wir gelangen damit zu dem gewichtig-
sten Einwand, den die am Phänomenalismus
haftende materialistische Auffassung der
Entwicklungslehre und Biologie dem trans-
cendentalen Individualismus gegenüber aus-
zuspielen pflegt, zur Theorie der Zeugung.

Selbst ein im übrigen einem relativen
Individualismus nicht abgeneigter Psycho-
loge, wie Kramár meint, die scheinbare
Entstehung des Individuums durch Amphi-
mixis, d. h. durch geschlechtliche Zeugung,
widerlege augenscheinlich jede Annahme
einer Prä-Existenz. (Kramár: Die Hypothese
der Seele, beispielsweise S. 168 ff.,
S. 421 ff.) Er meint, dass die Seele jedes
Individuums thatsächlich nur das Additions-
product zweier Seelen sei; »wie irgend-
eine Seele entweder in einem thierischen
oder menschlichen Organismus von anders-
woher übergehen könne«, ist ihm absolut
undenkbar.

Mir dagegen ist es absolut undenkbar,
wie ein einheitliches Bewusstsein durch
Vermischung« zweier selbständiger
»Bewusstsein« erzeugt werden könnte,
ebenso undenkbar, wie die materialistische
Erklärung der Bewusstseins-Einheit aus dem
Zusammentritt zahlreicher physikalischer
Atome.

Dass geschlechtliche Zeugung keine
unbedingte (abstracte) Vorbedingung für
Entstehung neuer Individuen ist, beweist
das Vorkommen der Parthenogenesis,
der jungfräulichen Geburt bei einzelnen,
allerdings niederen Thiergattungen; bei
den höheren Thiergattungen muss die ge-
schlechtliche Zeugung einen besonderen
Grund oder vielmehr, da alle Erklärung

auf organischem Gebiete auf Teleologie
oder Zweckforschung (allerdings unter
Zugrundelegung des richtigen, allgemeinen
Zweckgedankens, d. h. der immanenten
Zwecktheorie) hinausläuft, Nutzen ver-
bürgen. Nun dürfte dieser Nutzen bei
höheren Wesensarten in der nur durch
Heranziehung zweier verschieden orga-
nisierter Individuen der Gattung erreich-
baren Auslese eines dem sich incarnieren
wollenden Individuum »congenialen« (sym-
pathischen) Stoffes liegen. Die Zeugung
ist vom Standpunkte der Prä-Existenz aus
nichts anderes als eine Materialisation.
Nun bedarf selbst der rein äußerlich
wirkende plastische Künstler eines für die
Darstellungsobjecte, die er im Kopf hat,
geeigneten Materials. Kein wahrer Bildhauer
wird beispielsweise darauf verfallen, eine
Venus aus gebranntem Ziegelthon ge-
stalten zu wollen, er zieht diesen oder
jenen Marmor vor, der Künstler im Metall-
guss schafft sich bestimmte Legierungen,
Mischungen verschiedener Metalle. Um
wie viel mehr muss dies von jener imma-
nenten organischen Plastik gelten, die dem
äußerlichen Künstler ein stets unerreichtes
Vorbild bleibt? Auch der Landmann weiß,
dass der beste Samen irgendeiner Pflanze
nicht in jedem Erdreich aufgeht; der
Gärtner mischt daher die Erde, um be-
stimmte Pflanzen zu züchten.

Je höher differenziert also ein orga-
nisches Individuum im Verlaufe einer un-
endlich langen biologischen Entwicklung
geworden ist, umso sorgfältiger wird es
sich die Individuen auslesen müssen, die
eine ihm zusagende organische Legierung
bieten, in der es seine Form angemessen
ausprägen kann. Von diesem Gesichtspunkte
aus erscheint die Befruchtung freilich nicht
als das Werk des zeugenden Mannes,
sondern als ein metaphysischer Act des-
jenigen hinter dem sich begattenden Paare
stehenden transcendentalen Subjects, das
in der durch die Samenmischung ihm
gebotenen Stofflegierung ein ihm zusagendes
Darstellungsmittel findet. Es widerspricht
übrigens auch jeder würdigeren Auffassung
der Geschlechtsliebe, die Entstehung eines
so hoch entwickelten Individuums, wie es
der Mensch ist, abhängig zu machen von
der Willkür niedriger Lüste einerseits
und andererseits von dem blinden Zufall

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 67, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-03_n0067.html)