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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 68

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KUHLENBECK: DIE INDIVIDUALITÄT IST IHR EIGENES GESCHÖPF.

so unterworfenen Acten, wie es der
Begattungsact, rein physiologisch be-
trachtet, ist. Nur als Gelegenheitsursache,
als eine dem transcendentalen Individuum
gebotene Gelegenheit, sozusagen durch
ein ihm gebotenes Thor in das Diesseits
zu schlüpfen, darf eine würdige (meta-
physische und ethische) Weltanschauung
den Begattungsprocess, der ja auch, selbst
bei den fruchtbarsten Arten, keineswegs
immer und nothwendig mit einer Befruch-
tung abschließt, gelten lassen. Die Gesammt-
natur begünstigt diese Gelegenheit durch
den gewaltigen, generellen Lustfactor, mit
dem sie schon den rein physiologischen
Act, übrigens mehr noch in der ihn vor-
bereitenden Illusion, als in der Durchführung,
ausstattet. Das individualisierende
Moment aber, das mit der eigentlichen
Geschlechtsliebe zu diesem allgemeinen
Begattungstriebe hinzutritt, ist schlechter-
dings nur metaphysisch zu deuten. Der
erste moderne Philosoph, der sich einiger-
maßen congeriert mit der gewaltigsten
aller menschlichen Leidenschaften aus-
einanderzusetzen versucht hat (Schopen-
hauer),* erklärt die individuelle Liebesleiden-
schaft, jenes aus bewussten Motiven ganz
unerklärliche magnetische Etwas, durch
welches Capus gerade nur zu dieser Caja
und Hans zu dieser Grete sich hin-
gezogen fühlt — wenigstens insofern
individualistisch, als er sagt, dass die
Natur eben ein nur durch diese
Mischung mögliches Individuum schaffen
will und deshalb den Willen der beiden
Liebenden sich unterwirft.

Er hat damit aber auf seinen blinden
Gesammtwillen als metaphysischen Träger
der Individualität verzichtet, vielleicht
ohne es selber zu merken; denn wenn der
Wille blind ist, wie soll er da sich Zwecke
setzen können wie die der Erzeugung
einer bestimmten Individualität? Erst du
Prel hat in seiner »Philosophie der Mystik«
(S. 462 ff.) die Metaphysik der Ge-
schlechtsliebe auf einen sicheren Boden
gestellt, und dieser ist der des metaphysischen
Individualismus. Hier ist noch nicht der
Ort, das äußerst anziehende Thema der
Mystik der Geschlechtsliebe eingehender

zu erörtern. (Ein später unter der Auf-
schrift »Kypris« erscheinender Aufsatz wird
sich dieser Aufgabe unterziehen.) Einst-
weilen mag es genügen, mit du Prel zu
constatieren, dass die biologische Be-
trachtungsweise, welche die Individualität
nach den physiologischen Gesetzen der
Erblichkeit bestimmt werden lässt, die
transcendentale Betrachtungsweise nicht
ausschließt, nach welcher das Subject
diese Gesetze der Erblichkeit schon in
Rechnung ziehen kann, ja gerade auf
Grund derselben sich durch bestimmte
Eltern reincarnieren will.

Dass die rein physiologische Be-
trachtungsweise, welche in dem neuen
Individuum nur ein Additionsproduct der
elterlichen Eigenschaften sieht, abgesehen
von ihrer logischen Undenkbarkeit (Ein-
heit des Bewusstseins) auch an rein empi-
rischen Daten scheitert, wird jeder ver-
ständige Biograph und Historiker zugeben.
»Die Totalität der persönlichen Anlage
(eines Genies) kann niemals gefunden
werden aus dem Zusammentragen von
Details über die Eltern, die es erzeugten,
über die Lehrer, die es bildeten, über
das Land, das es nährte.« — »Wohl ist
keine geschichtliche Erscheinung ohne
alle Beziehung auf Vorausgegangenes;
wohl fasst das Genie in seinem individu-
ellen, einzelnen Geiste zusammen, was
eine Welt dunkel bewegt, spricht es aus,
gibt ihm Form und Gesetz; aber läge
darin das Ausschließliche seiner Wirk-
samkeit, so hätte es nichts Neues in die
Welt zu werfen. Die Rechnung, welche
aus vorausliegenden physischen, psychischen
culturellen Factoren die persönliche und
geschichtliche Existenz des Genies con-
struieren möchte, kann nirgends restlos
geführt werden; ein Posten fehlt, ein
ungreifbarer, undefinierbarer.« (Weltreich:
Friedrich Schiller I., S. 9.)

Dieses nicht aus den phänomenalen
Voraussetzungen Erklärbare, das dem
genaueren Beobachter sich auch beim
gewöhnlichen Menschen aufdrängt, ist
»demnach der individuelle Wille eines
transcendentalen Subjects, welcher die
irdische Erscheinungsform nicht nur aus

* Vgl. dessen »Metaphysik der Geschlechtsliebe« (»Welt als Wille und Vor-
stellung«) IV e, 44.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 68, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-03_n0068.html)