Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 69

Text

LINDNER: LAVATER.

dem objectiven Grunde erstrebt, um die
Zwecke der Gattung zu fördern, sondern
auch aus dem subjectiven Grunde, um
sich selbst zu fördern.« (Du Prel: Philo-
sophie der Mystik, S. 464.)

Je weiter man diese Annahme, diese
Individualisierung des Volo, ergo sum in
ihren Consequenzen verfolgt, umsomehr
erstaunt man über die Fruchtbarkeit ihrer
Bedeutung als Erklärungsprincip auf den
verschiedensten Gebieten, vor allem auch
auf dem der Geschichts-Philosophie. Das
Leben ist eine transcendentale
Selbstverordnung
. Diese du Prel’sche
Formel ermöglicht allein eine heroische
Weltanschauung durch Überwindung des
diesseitigen Pessimismus durch einen trans-
cendentalen Optimismus. Die scheinbare
Ungerechtigkeit der sogenannten Erbsünde,
die aus der Beobachtung des geschicht-
lichen Erbganges geschöpfte harte Lehre,
dass die Sünden der Väter an ihren Kindern
und Enkeln heimgesucht werden, schwindet,
wenn die Kinder sich ihre Eltern selbst
gewählt haben.

Auch wenn wir dem Pessimismus eine
jenseitige Stätte einräumen müssten,
wenn wir dem transcendentalen Subject
nach Platos Vorgang (vgl. die von uns
bereits erwähnte Stelle seines Dialoges
über die Republik) einen »Mangel an
Vorsicht in der Wahl der Eltern« u. s. w.
vorwerfen dürften, so bliebe doch die Aus-
rede der Lachesis in jenem Mythus wahr:
»Nicht euch hat ein Dämon sich erlesen,
sondern ihr habt euch einen Dämon ge-

wählt. Die Schuld trifft den Wähler.
Gott ist schuldlos«.

In dieser Formel liegt auch der
Schlüssel zur Lösung der Antinomie
zwischen dem praktischen Postulat der
Willensfreiheit und Verantwortlichkeit und
dem empirisch nothwendigen Determinis-
mus. Die Freiheit liegt, wie Schopenhauer
sagt, im Esse, nicht im Operari, oder wie
Kant nach Platos Vorgang sagt, im
intelligiblen Charakter, d. h. im trans-
cendentalen Subject. Wenn auch jede
einzelne Handlung das nothwendige Er-
gebnis unseres empirischen Charakters und
der auf diesen wirkenden Reize ist, so
sind wir doch verantwortlich dafür, dass
wir sind und dass wir so beschaffen
sind. Keine deterministische Philosophie
oder religiöse Prädestinationslehre wird
den Menschen, zumal den selbst besseren
Menschen, dahin bringen, sich jedes Wert-
urtheils über seine Mitmenschen zu ent-
halten, auf Grund der Lehre, dass Gott
oder die Natur ihn nun einmal so er-
schaffen habe, jener selbst also nichts
dafür könne, dass er beispielsweise ein
kleiner Teufel ist. Niemals wird der
menschliche Instinct auf diese Ausrede
eingehen, ja er überträgt sein praktisches
Werturtheil sogar auf das Hässliche oder
Schöne der äußeren Erscheinung und
rechnet letztere dem Individuum zur Schuld
oder zum Verdienst. Der gesellschaftliche
Instinct ist also unbewusst transcendentaler
Individualist.

LAVATER.*
Von ANTON LINDNER (Wien).

Mit Johann Kaspar Lavater, dessen
Todestag nunmehr hundert Jahre zurück-
liegt, weiß die zünftige Literärhistorie —
dort zumal, wo sie sich ehrlich geberdet —
durchaus nichts anzufangen. Und dennoch

ist diesem verdienstlichen Manne gar vieles
zu danken. Zwar, dass er sich jahrelang
in vaterländischen Schweizerliedern, in
Gleim’scher Philisterlyrik, in Klopstock’schen
Patriarchaden, in Flugschriften, Pam-

* Infolge eines technischen Versehens sind aus dem ersten Artikel, unter dem näm-
lichen Titel im vorigen Hefte publiciert, mehrere Spalten weggeblieben, wodurch der Beitrag
lückenhaft und theilweise unverständlich wurde. Das Fehlende sei hier ergänzt.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 69, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-03_n0069.html)