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phleten, Enquêten, Diatriben, in Predigten
und Briefen traurig verthan, mag lediglich
Denen von Interesse sein, deren Beruf
es ist, der Langweile verwitterter Epochen
in akademischen Filzschuhen nachzu-
hinken. Auch seine Moral-Philosophie,
sein ethisches Apostelthum, sein prophe-
tisch-propagandistisch-pastorales Gehaben,
das schließlich in die Verwunderung
auslief: »wie ein Mensch überhaupt leben
und athmen könne, ohne zugleich ein
Christ zu sein« — seine gesammte
theologische, nicht eben weitherzige Heils-
lehre und all das andere schwatzhafte Brim-
borium, das jede proselytenmacherische,
programmatische, tendenziöse Persönlich-
keit mit abschreckenden Dunstkreisen um-
gibt — all das, was diesen so milden und
reinen Mann zum salbaderischen »Gewissens-
rath« Deutschlands erhoben und ihm un-
streitig einen nachhaltigen Einfluss auf das
religiöse und ethische Empfinden seiner
Zeitgenossen erwirkt hat — — dies alles
braucht hier nicht ernstlich gewürdigt zu
werden, da es des öfteren schon von zu-
ständiger Seite zum Gegenstande unfrucht-
barer Untersuchungen gemacht wurde und
heute nur antiquarische Bedeutung hat.
Hier soll ganz im Gegentheil jener
große Trieb zu seelischer Verinner-
lichung hervorgehoben werden, der ihn
in den lautersten Jahren seines Lebens
unbewusst geleitet und zu der Entdeckung
geheimer Innenkräfte getrieben hat. Durch
Selbstzucht ward Lavatern die seltene
Fähigkeit, den wunderthätigen Regungen
der Seele geflissentlich nachzuspüren, sie
organisch zu entwickeln und zu einer
Quelle intuitiver Erleuchtung zu machen.
Dass man ihn darob verspottete, wie
man heute noch jedes ähnliche Streben
verlästert, ist als selbstverständlich zu re-
gistrieren. Man sah eben nur das unleid-
liche Schnörkelwerk, das sein hypo-
chondrisches, weltfremdes Wesen zu ver-
unstalten schien — der Gott aber hinter
der Fratze kam den Wenigsten zu Be-
wusstsein und wird heute wohl mehr ver-
kannt denn je. So war es ganz in der
Ordnung, dass Lichtenberg, dieser
geniale Journalist, die Gesammterscheinung
»Lavater« wie eine persönliche Beleidigung
empfand und wider dessen Theosophie
und Physiognomik in witzhaften Schriften
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reagierte. Wenn ein Mensch mit einem
Menschen zusammentrifft, und es gibt
nur einen Witz, trägt zumeist wohl
der Witzelnde die Schuld daran — so
könnte man Lichtenberg variieren. Des-
gleichen war es ganz in der Ordnung,
dass etliche hochgelahrte Herren zu Bremen,
Berlin und anderwärts, ein Biester, ein
Nicolai und Andere, der »göttlichen Ein-
gebung« Lavaters, dieser rührenden
Enunciation einer gleichsam schlafwandle-
rischen Unfehlbarkeit, ihre taghelle Zipfel-
mützen-Vernunft entgegenstellten und em-
phatisch die Rechte des »gesunden
Menschenverstands« vertheidigten. Ließen
sich doch selbst Schiller und mit ihm
Goethe, der in Lavater eine sehr geraume
Zeitlang den trefflichen Menschen, den
edlen Feind des Alltags verehrte und
anfänglich sogar als Mitarbeiter seiner
»Physiognomischen Fragmente« thätig
war, zu dem zweideutigen Xenion hinreißen:
Schade, dass die Natur nur einen Menschen
aus dir schuf.
Denn zum würdigen Mann war und zum
Schelmen der Stoff.
Allerdings, zum »Schelmen« war in ihm
der Stoff. Aber zum gütigen Schelmen,
der aus Gutgläubigkeit, aus angeborenem
Hang zur Andacht, aus unstillbarem Be-
dürfnis nach Ehrfurcht, aus ewig regem
Drange nach Anbetungs- und Verehrungs-
möglichkeiten sich selbst betrügen ließ,
sich selber unbewusst betrog und Andere
unbewusst betrügen musste. In diesem
ehrwürdigen Zürcher Seelsorger, der auf
den Rufnamen Kaspar hörte und große
Kinderaugen trug und trotz seiner un-
bestreitbaren Würdigkeit stets wie ein
Kranich die Schritte setzte, lag wohl der
Stoff zu jener besonderen Schelmenart, die
sich über ihre eigene Schelmenhaftigkeit
nie klar zu werden vermag, vielmehr mit
furchtbarem Ernst an ihre Ernsthaftigkeit
glaubt und namentlich in den seriösesten
Leuten ergötzliche Räder schlägt. Menschen,
denen sie im Blute spukt, glauben nur
deshalb an die Welt ringsum, weil sie in
ihr die Sonderwelt ihrer Constructionen,
Hallucinationen, Illusionen vermuthen und
weil sie diese beiden Welten die längste Zeit
ihres Lebens hindurch für identisch halten;
tritt die Spaltung ein, beweist man ihnen,
dass ihre Eigenwelt nicht existiert, dann
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