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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 71

Text

LINDNER: LAVATER.

führen sie den »Gegenbeweis«, dass die soge-
nannte reale Welt nur Scheinwelt, ihre
Sonderwelt aber die einzig reale Welt ist;
das Subject wird ihnen Object, das Object
Subject — und natürlich glauben sie nun
an ihr Subjectiv-Object (»Defectiv-Effect«
sagt Polonius) mit verdoppelter Bewusst-
heit, wo sie ehedem vielleicht nur unbewusst
oder halbbewusst daran geglaubt haben.
Glendower in Shakespeares »Heinrich IV.«
ist solch’ ein bitterlich ernster Schelm.
In Paracelsus lag, wenn ich richtig ver-
muthe, viel von ihm. In Zarathustra-
Nietzsche vielleicht nicht minder. Des-
gleichen in Marquis Posa. In Lavater
stak er entschieden und wurde durch das
seelsorgerische Phlegma, die pastorale
Lebensbahn Kaspars umso auffälliger
geknebelt. So war es durchaus nicht Teufels
Werk, dass Lavater der Missionär, Lavater
der Bäffchenträger für — Cagliostro
schwärmte und in besonderer Verehrung
das schwarzbestrumpfte Knie vor diesem
wunderlichen Großen beugte.

»Lavater glaubte an Cagliostro und
dessen Wunder«, erzählt Goethe. »Als
man ihn als einen Betrüger entlarvt hatte,
behauptete Lavater, dies — sei ein anderer
Cagliostro, der Wunderthäter Cagliostro
sei eine heilige Person!« Mit anderen
Worten heißt das also: Die Welt, in der
ich lebe, kenne ich nur, soweit sie in mir
lebt; die Welt, die in mir lebt, lügt nicht.
Beweist man mir altklug, dass sie gelogen
hat, so wird mir erst doppelt klar, dass
sie wahr gesprochen, weil dann alle Welt,
in der ich nicht lebe und die nicht in
mir ist, Lüge sein muss.

Was will man mehr? Ein gründlicherer
Triumph des Subjectiv-Objects und seiner
buntgesprenkelten Prestidigitatoren- Logik
lässt sich nicht denken.

Naturen wie Lavater sind in der
Regel herzensgute Menschen. Sie können
nicht enttäuscht und verbittert werden,
weil sie sich dann erst befriedigt fühlen,
wenn sie getäuscht worden, und weil sie
es nie zu fühlen vermögen, dass sie ge-
täuscht worden. Sie sind redselig, sie alle.
Das heißt: sie müssen jedenfalls ein Ventil
finden, durch das ihr scurriles Anderssein
frei wird und den Andern um die Köpfe
braust. Also thun sie erbaulich, stecken
nothgedrungen, von inneren Spannkräften

getrieben, ein erbauendes Gehaben auf
und werden — je nach dem Übergewicht
an productiven oder räsonnierenden Fähig-
keiten — Künstler, Prediger, Hofnarren,
Apostel, Ceremonienmeister, Komödianten,
Weltverbesserer, Ethicisten, Magier, Pro-
gramm-Menschen. Es ist eine billige Über-
hebung, sie lediglich — wie das die ewig
»überlegenen« Vernunftthiere thun — mit
gleichsam mitleidigem Lächeln als »ehr-
liche« oder »sonderbare« »Schwärmer«
zu bezeichnen. Sie sind vielmehr die Ge-
fäße jener unerklärlich mystischen Kräfte,
die in stetig schaffender Bewegung das
All füllen und nur den Wenigsten gewahr
werden. Und so muss es jederzeit reine und
demüthige Menschen geben, die (in einer
gewissen Hinsicht clownhaft im besten
Sinne dieses üblen Wortes) ihrer ganzen
seelischen und sinnlichen Disposition nach
würdig scheinen, zu unbewusst-bewussten
Trägern und Hütern dieser göttlich dunklen
Kräfte unserer allverseelenden Mutter Natur
zu werden.

Dass solche Menschen ein nothwendiger
Segen sind, empfinden wir namentlich in
den Tagen unserer Jugend (da wir den
Zusammenhang mit dem All noch nicht
ganz verloren haben) und in den Tagen
unseres Alters (da wir den Zusammenhang
mit dem All aufs neue zu gewinnen
scheinen). Ein eclatantes Beispiel ist wohl
Goethe. Der junge Goethe (der Goethe
der Leipziger Briefe und Strassburger
Lieder und Weimarer Lustbarkeiten),
der mit Lavater oft brüderlich in einem
und demselben Bette geschlafen — und
der alte Goethe, der in den zweiten Theil
seines »Faust« mehr Lavaterei hinein-
gelegt, als ihm wohl selber zu Bewusst-
sein gekommen. Aber in den Tagen
seiner Mannesklarheit hat sich der
nämliche Goethe von dem einst so Ge-
liebten losgesagt, weil Kaspar, der Gute,
»sich und Andere belog«, »gewaltigen
Täuschungen unterworfen« war und die
»ganz strenge Wahrheit« nicht kannte. Auf
dem Blocksberg (»Walpurgisnacht«) ließ
er ihn als Kranich einherstolzieren und
beklagte auch später noch in nüchternen
Augenblicken, so oft von Lavater die Rede
war, dass ein »schwacher Mysticismus«
dem »Aufflug seines Genies« Grenzen
gesetzt.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 71, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-03_n0071.html)