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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 72

Text

LINDNER: LAVATER.

Dieser »schwache« Mysticismus lag
eben tief im Innersten seiner Natur be-
gründet und war durchaus nicht als etwas
Äußerliches zu nehmen. Da Kaspar kein
Dichter war, konnte sich sein Mysticismus
nicht, wie bei Goethe, auf einige erhöhte
Augenblicke des Schaffens beschränken,
blieb vielmehr stets gegenwärtig, ver-
mochte sich nicht, wie bei Goethe, in
bestimmte Explosionspunkte zu sammeln,
musste daher den Eindruck der lediglich
gläubigen (weil künstlerisch ungerecht-
fertigten) Schwäche machen.

Seine Predigten und Herzensworte,
aus deren übergroßem Reichthum unsere
Pastoren, Pfarrer, Rabbiner zu ihrem eigenen
Vortheil stehlen sollten, statt ewiglich
gedankenlosen Brei zu treten — sind von
einer heilsamen Verehrung für alles Gottes-
kräftige, Zeugungskräftige, Naturkräftige
erfüllt und verlieren sich nur selten in
sophistische Speculationen. Namentlich
sei auf seine Schrift »Über die Liebe«
verwiesen. Daneben sind die phantastisch-
visionären »Aussichten in die Ewig-
keit
« lesenswert; in vier Bänden ver-
einigen sie fast alles, was Lavater über
die Schicksale nach dem Tode auf dem
Herzen hatte. Nicht ohne Vergnügen lässt
sich das anonym erschienene »Geheime
Tagebuch von einem Beobachter
seiner selbst
« in die Hand nehmen.
Hat man Zeit und hegt man geduldigen
Taubenmuth, dann mag man mit gleichem
Behagen in einem vierbändigen Schmöker
blättern, der mit grotesker Umständlich-
keit de omni re scibili et quibusdam aliis
handelt und den pandämonischen Titel führt:
»Pontius Pilatus oder der Mensch in
allen Gestalten oder Höhe und Tiefe der
Menschheit oder die Bibel im Kleinen und
der Mensch im Großen oder ein Universal-
Ecce-homo oder Alles in Einem«.

Keinesfalls aber wird man die »Phy-
siognomischen Fragmente zur Be-
förderung der Menschenkenntnis
und Menschenliebe
« (1775, vier Bände)
umgehen können, die bekanntlich schon
zu Lebzeiten des Verfassers internationale
Berühmtheit erlangt und namentlich in
Deutschland, England und Frankreich
sehr zahlreiche Anhänger gefunden haben.
Man weiß, dass sie die Wechselwirkungen
des äußeren und inneren Menschen, die

räthselhaften Beziehungen zwischen Seele
und Antlitz zum Gegenstande einer sprung-
haften und hypothetischen, mehr divina-
torischen als logischen, mehr pythischen
als philosophischen Untersuchung machen
und dieses schwierige Problem mit einer
Kühnheit anschneiden, die den wehrhaften
Akademicismus wie ein rothes Tuch reizen
musste. Zwar, was von Plato, Pythagoras,
Aristoteles geahnt, von mittelalterlichen
Mystikern theilweise ausgesponnen und
von der Märchenphantasie fast aller
Völker, der orientalischen zumal, wie
etwas Längstgehegtes bestätigt wurde,
konnte von einem Manne wie Lavater
gleichfalls nur intuitiv erfasst, intuitiv
ausgebaut und lediglich auf persönliche
Empfindungen oder Ahnungen gestellt
werden. »Beweise« waren seine Sache
nicht. So begnügte er sich, Töne und
Themen anzuschlagen, die er aus sich
selber heraufholte, um sie dann seiner
Natur gemäß mit abenteuerlicher Com-
binationskraft wortreich zu paraphrasieren.
Was er an Wissenschaftlichkeit — Natur-
wissenschaftlichkeit — in das Buch gelegt,
scheint großentheils von Goethe zu
stammen. Aber die Unerschrockenheit, der
Freimuth (den er auch sonst in seinem Leben
und in politischer Beziehung bekundete), die
Unabhängigkeit und vor allem die hohe inspi-
ratorische Kraft bleibt zu loben, mit der er an
einem der beschwerlichsten, verstecktesten
und interessantesten Probleme gegraben,
um es alsbald für öffentliche Discussionen
und für die Forschung späterer Jahrzehnte
freizulegen. Dass viele der Späteren — so
Gall, Piderit, Carus, Darwin, Spencer
— zu andersgearteten Resultaten gelangten
und sich vielfach genöthigt sahen, von
völlig neuen Voraussetzungen und Erfah-
rungen auszugehen, kann Lavaters Ver-
dienst in keiner Weise schmälern.

Als dann anno domini 1786 der Mag-
netismus aus dem Elsass in die Schweiz
kam, beugte sich Kaspar vor dieser
»neuen Art von Strahlen«, die ihm
aus dem Herzen des Alls zu kommen
schienen, versetzte alsbald seine kranke
Frau in einen hellsehenden Zustand, weckte
in ihr den Somnambulismus nach dem
Puységur’schen Verfahren, heilte sie und
viele Andere auf diesem ungewöhnlichen
Wege und gelangte so zu dem Caeterum

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 72, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-03_n0072.html)