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Censeo: »Ich verehre diese neu sich zei-
gende Kraft als einen Strahl der Gottheit,
als einen königlichen Stern der mensch-
lichen Natur, als ein Analogon der
unendlich vollkommeneren prophetischen
Gabe der Bibelmänner, als eine von der
Natur selbst mir dargebotene Bestätigung
der biblischen Divinations-Geschichten
und das Mittel, diese Exaltation zu be-
wirken.«
Sei dem nun, wie ihm sei — es
kann uns an sich gleichgiltig lassen.
Der Hauptwert der Lavater’schen Per-
sönlichkeit — als Typ genommen — und
ihre culturelle Notwendigkeit und Wohl-
thätigkeit liegt eben, meine ich, darin, dass
sie in die schalen Zeiten einer nüchternen
Aufklärungs-Epoche hereinbrach und mit
kühner Beharrlichkeit — gestützt von den
Gefühlen und Argumenten eines grund-
gütigen menschlichen Herzens — das
Recht der Intuition und des Unbewusst-
seins verfocht.
Zu gleicher Zeit vertheidigte ein
anderer Theologus, gleichfalls cagliostro-
haft angehaucht, in einer Unzahl absonder-
licher Tractate und in einem sibyllinischen
»Heuschreckenstil« (wie er selber sagte)
die unzeitgemäße Erkenntnis, dass »der
Aufschwung deutscher Bildung und Lite-
ratur gehemmt würde durch einen greisen-
haften Geist der Überlegung, durch
veraltete Schulsatzungen, durch Klein-
geisterei und pedantische Gelehrsamkeit,
welche ohne Geist, Charakter und In-
spiration sei«. Es war Hamann, der
Magus, der im übrigen mehr aus Krakehl-
sucht schimpfierte und die Lavater’sche
Herzenseinfalt vollends vermissen ließ.
Aber Beide hatten Recht, und Johann
Kaspar besonders. Denn Kaspar war ein
Seelenwecker, der wider die Anmaß-
lichkeit, wider die überwuchernde Auf-
dringlichkeit und dummdreiste Überlegen-
heit der Alltagsvernunft zu Felde rief
und — dem Gehirncultus zu Trotz — die
Haltlosen und Halben zu seelischer Ver-
innerlichung antrieb. Dies vor allem
darf ihm nicht vergessen bleiben! In-
sonderheit heute nicht, ein Säculum nach
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seinem Tode. Denn größer als je zuvor
ist heute die Notwendigkeit, dass
irgendwo aus einem Punkte der Welt-
kugel ein guter Geist hervorkomme, den
Correcten und Exacten aufs neue zu be-
weisen, dass immer noch gewisse Dinge
zwischen Himmel und Erde vorhanden
sind, von denen sich die Weisheit sämmt-
licher Schulen noch immer nichts träumen
lässt; dass eine zweimal genommene Zwei
nur manchmal einer restlosen Vier gleich
wird; und dass hinter der Schale des
Sichtbarlichen trotz Haeckel und Büchner
gar seltsame Dinge geschehen, die sich
dem innerlich Bemühten, dem Ehrfürch-
tigen und Demüthigen nach jahrelanger
Selbstzucht in seltenen Augenblicken wie
Deutungen ewiger Räthsel mit Wehe-
gewalt verkünden.
Was ist es denn, muss man fragen,
das unserer armseligen Zeit jedes Gefühl
für Instinct-Werte (die sich auf Akademien
nicht lernen lassen), jedes Verständnis für
divinatorische Triebe, jeden Gradmesser für
esoterische Fähigkeiten* genommen hat?
Zunächst wohl, allgemein gesprochen, die
internationale Drillcultur, die unser ge-
sammtes Innen- und Außenleben kaserniert,
uniformiert, nivelliert. Dann wohl auch,
specieller gesprochen, die verlogene Viel-
seitigkeit unserer Tage, die sich allen erdenk-
lichen Lehren, Systemen, Thesen dirnenhaft
hingibt, mit Angeflogenem, Angelesenem,
Angehörtem erheuchelten Staat macht
und schließlich zur Zersplitterung der
besten Seelenkräfte, zur Zerrüttung jedes
harmonischen Werdens, zur Abtödtung
aller intuitiven Keime führen muss. Des-
gleichen auch die kleinliche Einseitigkeit,
das eng begrenzende und isolierende
Specialistenthum unserer Zeit, das als
nicht minder charakteristische Parallel-
Erscheinung zu der nämlichen Austrock-
nung aller imaginativen Säfte und zu der
selben Zerrissenheit und Haltlosigkeit aller
geistigen Horizonte (nur eben auf umge-
kehrtem Wege) hinleiten muss. Ferner
all’ die maschinellen, technologischen,
methodologischen Wunder der praktischen
und theoretischen Wissenschaft, die (unter
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