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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 74

Text

LINDNER: LAVATER.

dem Anschein, den Geist der Schwere zu
überwinden) den Bequemlichkeitstrieben
unseres Leibes in verderblichstem Maße
schmeicheln; aus den Bequemlichkeits-
trieben unseres Intellects in gleicher Weise
Capital schlagen; Gedanken, Gefühle,
Stimmungen fast schon im Augenblicke
ihres Entstehens durch die Wachsam-
keit der erstaunlichsten Apparate und
Installationen zum »Gemeingut der Völker«
erheben und demgemäß schwächen oder
vergewaltigen; dem Einzelnen die Augen,
Ohren, Zungen unzähliger Vermittler und
Söldlinge aufdrängen; jede Bemühung der
eigenen Sinne überflüssig und illusorisch
machen; jede Eigengymnastik, jede Selbst-
übung und Selbstbethätigung der ererbten,
aber ungeweckten Kräfte, jede Selbstbeschei-
dung, jeden Selbstzweck, jede Weltflucht ins
eigene Innere tausendfältig erschweren
und solchermaßen (weit entfernt davon,
den Geist der Schwere zu überwinden)
thatsächlich nur neue Formen der phili-
strösesten Trägheit züchten. Endlich die
fortschreitende Intellectualisierung des ver-
bildeten Mittelstands und seiner dienenden
Glieder, die unter dem Ansturm populari-
sierender Strömungen und unter der
Tyrannis des »gesunden Menschenver-
stands« auf durchaus unorganischem Wege,
mit durchaus äußerlichen Mitteln, zu
Cerebral-Automaten verballhornt
werden, jede Eigencultur, jedes Innere
Vermögen zu schöpferischer Erkenntnis,
jeden Antrieb zu einheitlicher Geistigkeit
einbüßen und so sich selber —: fast
unbewusst — zu umso traurigeren freaks
of civilisation
entwickeln, je snobistischer
sie ihre beschränkte »Feinsinnigkeit« und
»Differenziertheit« oder ihre hochstap-
lerische »Modernität«* geflissentlich zur
Schau tragen!

Mehr denn je zuvor und weitaus ge-
schäftiger, als in früheren Epochen, sind also
die genannten zeitpsychologischen Phäno-
mene, ihre Einflüsse und Wechsel-
wirkungen, heute am Werke, den letzten
Rest unserer intuitiven Kräfte vollends zu
ersticken. Die Analphabeten der Instinct-
sprache (die gleichsam das internationale
Volapük der menschlichen Seele ist)
mehren sich ins Zahllose, Unzählbare. Der
»dunkle Drang« erlahmt, der ehedem den
»guten Menschen« mit somnambuler
Sicherheit geleitet und über Dächer und
Klüfte fährdelos gleiten ließ. Selbst die
schaffende Künstlerseele bricht sich —
mehr als dies ehedem je der Fall ge-
wesen — in ihren schöpferischen Lebens-
wellen an den Klippen des Hirns und hat
es völlig verlernt, über die Hemmnisse
des Intellects bacchantisch hinwegzutanzen.
So schreitet denn die Verkalkung der
Instincte
allmählich vor, erbt sich wie
eine neue Krankheit fort, erobert sich
Stück um Stück unserer ohnehin schon viel
zu wissend gewordenen Seele.

Da müssen wir also dankbar sein
selbst für das Kleinste, das dieser
schleichenden Schwere zu wehren ver-
möchte. Drum wäre ein Lavater’scher
Einschlag im Sinne des Vorausgegangenen,
cagliostrohaft imprägniert, unserem Blute
sehr zuträglich. »Lavater« als Antidotum,
»Lavater« als Princip genommen, könnte
den Hochmuth des Schädels zu demüthiger
Reagens zwingen — und zu dem Bewusst-
sein der eigenen Ohnmacht in allen
Geheimfragen unseres Trieblebens, die
sich durch die Dialectik des Theore-
tikers nun einmal nicht zerhauen lassen
und mit der exacten Lupe des Flohsecierers
noch weniger zu entwirren sind. Incubus
Incubus Cagliostro, erwache!

* Mit keiner Begriffsflagge wird heute so ausgiebig Missbrauch getrieben, wie mit dieser!

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 74, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-03_n0074.html)